Was sagt mir „Gott“ - Dezember 2004

„Er“ sagt mir nichts, er spricht nicht zu mir; denn ich glaube nicht, dass es Gott gibt. Und doch - es würde mir fehlen, nicht von ihm zu hören; von anderen, die an ihn glauben und dies in ihrem Leben bezeugen.

Meine Profession bringt es mit sich, dass ich fast täglich mit solchen Menschen zu tun habe  - die meisten von ihnen sind Muslime. Ihnen ist Gott eine ständig gelebte Gegenwart. Manch einer meiner muslimischen Kollegen beginnt seinen Vortrag mit „Im Namen Gottes des Barmherzigen, des Erbarmers“, einem Wort, das - mit einer Ausnahme - über jeder der 114 Suren des Korans steht. Und wie viele Verabredungen werden mit einem „So Gott will“, (in sha’a Allah) geschlossen.

Es erscheint uns unzeitgemäß, sich so unverstellt zu Gott zu bekennen; es erscheint uns vielleicht sogar beunruhigend, etwas so Wichtiges und Gültiges wie eine Verabredung oder die Ankunftszeit eines Zuges oder gar eines Flugzeuges dem Willen Gottes anvertraut zu wissen. Für mich, der ich damit umgehen kann, hat der Freimut des Bekenntnisses etwas Anrührendes. Mag manches auch zur Formel geworden sein – die meisten der Menschen, die Gott so unbefangen im Munde führen, unterscheiden sich von dem menschlichen Umfeld meines täglichen Lebens. Was vor allem auffällt, ist ihre innere Ruhe. Ich spüre, dass sie nicht unter dem Zwang stehen, sich an ihrer Leistung allein zu messen. Dies bedeutet nicht, sich nachlässig gehen lassen zu können. Aber indem sie sich in ihrem Tun Gott anvertrauen, schaffen sie sich Raum für Erfahrungen jenseits eines bloßen Leistungszwangs. Der Mensch, der sich unter den Augen Gottes sieht, sieht auch den Menschen, dem er begegnet, in einer größeren Fülle – und eben nicht nur als funktionierende menschliche Maschine. Ich glaube, hier wird auch eine innere Freiheit wiedergewonnen, die vielen von uns, fixiert auf Erfolg und Ergebnis, verloren gegangen ist.

Fatalismus und Fundamentalismus bilden die extremen Eckpunkte eines Hineinziehens Gottes ins Alltägliche. Die Gefahren können im Lichte der Gegenwart nicht kleingeredet werden. Hier geht es mir aber um die Feststellung, dass Gott im Alltäglichen wieder sichtbar zu machen, eine Bereicherung ist. Eine Selbstverpflichtung, die sich nur an Leistung und materiell messbaren Erfolgen bewährt, hat eine Leere erzeugt, die wir alle spüren. Viele von uns haben keine Alternative als dies zu akzeptieren - wir können nicht anders. Aber da sind diejenigen, die ihr tägliches Handeln in das Licht Gottes stellen, den sie in ihrem Leben gegenwärtig wissen. Ich sehe ich in der Begegnung mit Frommen - Muslimen, Christen und anderen – eine Bereicherung und eine Chance, aus der Sackgasse des völlig ohne Gott Lebens herauszukommen. In diesem Sinne sagt mir „Gott“ viel - und sei es nur als Hoffnung, dem Menschlichen in unserer Gesellschaft mehr Raum zu geben.