Arabien und Europa - Für eine Vision der Einheit in Vielfalt - Mai 2011

Die arabische Welt ist in einen historischen Wandlungsprozess eingetreten. Die Regimewechsel in Tunesien und Ägypten sowie die Revolten in anderen arabischen Ländern sind Symptome für tief greifende politische und gesellschaftliche Veränderungen, die sich in den nächsten Jahren vollziehen werden.

Dieses Mal geht der Anstoß nicht von Militärs aus oder von ideologisch geleiteten Eliten wie in den fünfziger und sechziger Jahren. Quer durch alle Schichten stehen die Menschen auf, um gegen die alten Ordnungen zu protestieren. Es ist vor allem die Jugend, die für ihre Zukunft demonstriert. Ihre Forderungen sind wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Natur: Sie wollen einen gerechten Anteil an dem erwirtschafteten Wohlstand sowie das Ende von Korruption und Günstlingswirtschaft, die die gesellschaftlichen Gräben zunehmend vertieft und breite Teile der Gesellschaft marginalisiert haben. Sie wollen aber auch eine faire, demokratisch zustande kommende Teilhabe an der Gestaltung der politischen Zukunft ihrer Völker. Hinter der Mauer autokratischer Machtausübung haben sich die arabischen Gesellschaften pluralisiert. Die bestehenden politischen Machtverhältnisse stehen der Freiheit der Jugend entgegen, ihr Leben selbst bestimmt zu gestalten.

Mit den Protesten ist ein Anfang gemacht; der Weg zu stabilen neuen Ordnungen ist schwer vorher zu bestimmen. Der Wandel wird sich von Land zu Land unterschiedlich vollziehen – er wird von der Geschichte der jeweiligen Völker und von den Traditionen bestimmt, die die arabischen Gesellschaften zwischen dem Atlantik und dem Indischen Ozean geprägt haben. Der Islam als Lebensmittelpunkt der großen Mehrheit der Araber wird eine prägende Kraft bleiben. Seit langem hat in vielen Teilen der arabischen Welt (und darüber hinaus) eine Bewegung begonnen, die islamische Religion und die Grundlagen demokratischer, pluralistischer und freiheitlicher Ordnungen zu verschmelzen. Die Menschen, die über elektronische Kommunikation global vernetzt sind – und in dem Bewusstsein der Vernetzung ihre Furcht vor den repressiven Strukturen verloren haben – werden sich der neuerlichen Unterwerfung von Seiten einer einzelnen geistigen und politischen Strömung widersetzen. Die Furcht vor einem totalitären Machtanspruch, der aus dem Islam abgeleitet wird, ist unbegründet.

Europa ist mit der Zukunft seiner arabischen Nachbarschaft untrennbar verbunden. Trotz der langen Zusammenarbeit europäischer Regierungen mit den autokratischen Regimes üben die Prinzipien von Demokratie und Menschenrechten auf breite Teile der Gesellschaften nach wie vor eine starke Anziehungskraft aus. Aber Europa muss seine Entschlossenheit zum Ausdruck bringen, den Raum des Mittelmeers und des Nahen Ostens in eine Vision von einer gemeinsamen Zukunft im 21. Jahrhundert einzubringen. Die Europäer müssen erkennen, dass die Stellung Europas im globalen System der Zukunft wesentlich auch von der Qualität partnerschaftlicher Beziehungen zu seiner Nachbarschaft im Süden und Osten bestimmt wird. Große Teile der arabischen Gesellschaften werden ihre wirtschaftlichen Probleme, die nicht zuletzt aus der Bevölkerungsentwicklung der letzten Jahrzehnte resultieren, nicht allein lösen können. Nicht Abschottung wird die Lösung sein können. Im Gegenteil – umfassende Verflechtungen auf den Gebieten des Humankapitals, der Landwirtschaft, Industrialisierung und Energiegewinnung werden die Grundlage für eine Entwicklung in Frieden, Stabilität und Wohlstand sein. Der Wandel, der in den arabischen Gesellschaften eingesetzt hat, mag kurzfristig Instabilität erzeugen; langfristig ist er die Voraussetzung für eine Gestaltung einer gemeinsamen Zukunft. Er ist auch die Voraussetzung dafür, dass der arabische Raum beginnt, sich im Inneren wirtschaftlich stärker zu vernetzen. Davon wird seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges viel gesprochen; geschehen ist sehr wenig. Mit Blick aber auf die Stabilität der Gesamtregion ist die Verschränkung der zum Teil extrem unterschiedlichen Potentiale und Ressourcen essentiell.

Deutschland hat in dieser Vision einen festen Platz. Seit langem blicken die Araber freundschaftlich auf Deutschland. Der Aufbau eines demokratischen Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg und die starke Wirtschaft sind über Jahrzehnte mit Anerkennung und Bewunderung wahrgenommen worden. Die Wiedervereinigung des Landes hat unter den Arabern breite Zustimmung gefunden. Heute ist die ostdeutsche Revolution, die die Menschen furchtlos auf die Straße gehen ließ und zum Zusammenbruch eines repressiven Regimes führte, zu einem Orientierungspunkt für die Entwicklungen im arabischen Raum geworden. Es ist nicht unzutreffend, die arabische Revolte als eine Fortsetzung der Ereignisse im Europa der Jahre 1989/90 zu verstehen. Deutschland sollte seine Beziehungen zu der aufbrechenden arabischen Welt auch in diesem Lichte sehen.