Euro-Islam - Februar 2005

Veröffentlicht: Dienstag, 26. Februar 2008 18:31
Das Wort vom Euro-Islam macht wieder die Runde. Es taucht immer dann auf, wenn es in den Beziehungen zwischen der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft und der muslimischen Religionsgemeinschaft in Europa nicht zum besten steht. Wo der Euro-Islam beschworen wird, ist die Leitkultur nicht weit. Der Wunsch ist Vater des Gedankens, es müsse eine spezifische Form von Islam geschaffen werden, die ein Gefühl von „Anderssein“ aufhebt, das viele Menschen in Europa befällt, wenn sie vom Islam lesen oder hören oder wenn sie ihm - nicht zuletzt in Gestalt einer kopftuchbedeckten Muslimin - begegnen. Das „Problem“ schiene gelöst, wenn Muslime Demokratie und Menschenrechte, die Gleichheit von Mann und Frau sowie die Trennung von Religion und Staat gleichsam in ihr Glaubensbekenntnis aufnehmen würden.

Der „Euro-Islam“ ist Symptom einer Beziehungskrise. Die Gewalt im Nahen Osten und anderswo in der islamischen Welt, nicht selten verbunden mit militanten verbalen Kampagnen gegen „den Westen“, haben diese Krise verschärft. Der Mord an dem Niederländer Theo van Gogh, begangen von einem aus Marokko stammenden Jugendlichen mit niederländischem Pass, hat das Gespenst der „Parallelgesellschaft“ und das Menetekel der „gescheiterten Integration“ heraufbeschworen. Wie entspannt wäre es demgegenüber, wenn Euro-Muslime so wären wie der Rest der Gesellschaft.

Die Muslime selbst freilich folgen den Anmutungen eines dergestalt menschenfreundlichen Konstrukts nicht eben mit fliegenden Fahnen. Das gilt insbesondere für ein Verständnis von Euro-Islam, wie es der Göttinger Politikwissenschaftler Bassam Tibi vertritt, der die Erfindung dieser Islam-Variante für sich reklamiert. Seine Forderung, Muslime müssten die Grundwerte liberal-demokratischer politischer und gesellschaftlicher Ordnungen in Europa tel quel übernehmen, um aus ihrer „vormodernen“ Religion und Geisteshaltung herauszutreten und in einer von Europa vorgezeichneten Moderne ihren Platz zu finden, wird weithin als Aufforderung zur Assimilation empfunden und als Angriff auf eine islamische Identität zurückgewiesen. Eine besondere Empfindlichkeit gilt moralischen Werten. Anlässlich der Ermordung des niederländischen Politikers Pim Fortuyn ging Tibi so weit, eine „religiöse Kultur, die abweichendes Verhalten wie die Homosexualität verdammt und verfolgt“, für „rückständig“ zu erklären. Für die überwältigende Mehrheit der Muslime ist dies Assimilation pur; Tibi steht damit um so mehr bei der weitaus größten Mehrheit der Muslime im Abseits, als er auch sonst nicht zu sagen vermag, wo denn – sei es religiös-theologische oder gesellschaftliche –Eigentümlichkeiten des Euro-Islam liegen.

Tibis Quasi-Ausstieg aus der weltumspannenden islamischen Religionsgemeinschaft (umma) steht Tarik Ramadan, franco- und anglophoner Lehrer für Philosophie, Islamwissenschaftler und Publizist, gegenüber. Er besetzt den „Euro-Islam“ affirmativ. Dieser solle nicht mehr ein Immigranten-Islam sein, sondern durchaus auf die Herausforderungen der Zeit neue Antworten finden. Sein Fundament allerdings seien die universal gültigen Grundwerte des Islam. Die traditionellen islamischen Konzepte sollten an europäische Gegebenheiten angepasst werden; grundlegende Konzessionen sollten dabei nicht gemacht werden. Auf diese Weise sucht Tariq Ramadan die Muslime Europas von dem „doppelten Minderwertigkeitskomplex“ zu befreien: Gegenüber der westlichen und einer islamischen Welt, die die reine islamische Lehre zu vertreten beanspruche. Er fordert eine aktivere Rolle für die Muslime in Europa. Anders als bei Tibi geht es also nicht um eine Art von Assimilation, sondern Partizipation. Dieses affirmative Konzept Ramadans findet insbesondere bei jungen Muslimen Zustimmung. Viele nichtmuslimische Europäer sind demgegenüber im Zweifel, ob sie in dem Euro-Muslim Ramadan einen liberalen Reformer oder einen missionierenden Fundamentalisten sehen sollen.

Wenn Tibi in einem breiten nichtmuslimischen gesellschaftlichen Umfeld Zustimmung erfährt, dann ist dies genau der Grund für eine verbreitete Skepsis gegenüber der Propagierung eines Euro-Islam unter zahlreichen Muslimen. Ein religiös derart verdünnter und denaturierter Islam, dessen vornehmste Anforderung die Unterordnung unter ein westliches Wertesystem ist, erscheint als religiös belanglos; Ramadans dynamische Selbstvergewisserung als europäischer Muslim eher als Aktionsprogramm denn theologische Lösung für religiöse Herausforderungen. So löst das Stichwort des Euro-Islam bei einer Mehrheit unter den Muslimen irritierte Assoziationen aus.

Sie bevorzugen eine pragmatische „Anpassung an die europäische Lebensweise, ohne die Grundsätze des Islam aufgeben zu müssen“, wie es der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Nadeem Elyas, kürzlich noch einmal formulierte. Zu stark ist das Unbehagen, „Euro-Islam“ könne eben doch einen Verlust elementarer Glaubensinhalte und zugleich einen Anspruch von Nichtmuslimen bedeuten, ihrerseits zu definieren, was der Islam sei. Dass dieser nicht über kirchliche Strukturen und nicht über einen organisierten Klerus verfügt, der mit Autorität Fragen der theologischen und religionsrechtlichen Erneuerung beantworten kann, erweist sich einmal mehr als problematisch. Wer spricht mit Autorität? Von ihrem Werdegang und ihrer Ausbildung einschlägig vorbereitete und durch Kenntnis oder Charisma herausragende Persönlichkeiten sind nicht in Sicht. Die Qualifikation der Sprecher und Funktionäre in den Vereinen und Verbünden, in denen - allerdings nur in einer Minderheit – Muslime in Deutschland zum Beispiel organisiert sind, wurde, um nur eine kleine Auswahl zu nennen, in den Politikwissenschaften, dem Maschinenbau, der Pädagogik oder der Medizin erworben. Entsprechend vielfältig ist der Chor, wenn es um die entscheidende Frage geht, nämlich die Geltung der Shari’a, des religiösen Rechts, das mit der göttlichen Offenbarung selbst und der Überlieferung des Propheten Mohammed untrennbar verbunden ist. Unter „Shari’a“ verstehe jeder etwas anderes. Man müsse erst einmal festlegen, was davon in welchem Kontext übertragbar sei und was nicht, meint Elyas. Damit dürfte er die Überzeugung einer breiten Mehrheit von Muslimen in Europa wiederspiegeln. Und so kann man tatsächlich unter dem Strich einen breiten Strom von Erneuerungsbemühungen  erkennen, der bemüht ist, die Widersprüche zwischen einem traditionellen Islamverständnis und den Gegebenheiten europäischer Gesellschaften aufzulösen. Dabei kann nicht übersehen werden, wie rabulistisch so manches Argument daherkommt oder dass manche Unverträglichkeit schlicht mit Schweigen übergangen wird. Die vom Zentralrat der Muslime in Deutschland 2002 verabschiedete „Islamische Charta“ bildet diesbezüglich keine Ausnahme. Zu einer Aussage wie dieser: „Es besteht kein Widerspruch zwischen der islamischen Lehre und dem Kernbestand der Menschenrechte“, hat es begreiflicherweise zahlreiche Nachfragen gegeben. Ähnlich ausweichende Formulierungen finden sich anderswo; dies gilt auch für das Recht auf freie Religionsausübung bzw. Religionswechsel. Immerhin – ein solches Gesprächsangebot ist geeignet, Berührungsängste grundsätzlicher Art abzubauen. Wenn erst einmal im großen Annäherung erreicht ist, wird man sich auch über kontroverse eher äußerliche Sachpunkte unbefangener verständigen; alsda sind Kopftuch und Modalitäten des Schulunterrichts.

Elyas will angesichts einer solchen Entwicklung nicht von einem „europäischen Islam“, sondern von einer „europäischen Lebensweise der Muslime“ sprechen Das ist eine zugleich kluge wie sympathische Differenzierung. Sie beinhaltet weitere Facetten, die immer deutlicher hervortreten, so etwa die Hinwendung zu europäischen Sprachen im Rahmen des Kultus- und des Religionsunterrichts. Damit verbindet sich nicht zuletzt eine tendenzielle Abkoppelung der muslimischen Gemeinden von den islamischen Strukturen und Lehrinhalten der Herkunftsländer. Die Gründung von theologischen Lehrstühlen an europäischen Universitäten verleiht der Europäisierung des Islam einen weiteren Schub. In Deutschland sind in jüngster Zeit Gründungen an den Universitäten Münster und Frankfurt am Main erfolgt.

Das Thema des „Euro-Islam“ wird seine Konjunktur in dem Maße verlieren, in dem Muslime ihre „Lebensweise“ in Europa im Sinne der Integration organisieren. Nach Lage der Dinge aber wird dies nicht eine „europäische“ Lebensweise sein. Vielmehr werden Muslime in jedem europäischen Land ihre Lebensweisen gemäß den jeweiligen kulturellen und geschichtlichen Traditionen sowie gesellschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen gestalten. Wie groß die Unterschiede dabei sind, lässt sich schon an zwei Nachbarländern wie Deutschland und Österreich ablesen: Vor dem Hintergrund der Stellung der bosnischen Muslime im Habsburger Reich ist in Österreich anders als in Deutschland der Islam offiziell als Religionsgemeinschaft anerkannt. Viele Bosnier selbst aber erheben seit langem den Anspruch, „einen Beitrag zur europäischen Zivilisation zu leisten“ (siehe NZZ, 21.1.2005). Auch in der Türkei vollziehen sich Entwicklungen von weitreichender Bedeutung. Unter der Regierung der „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ ist das Land zugleich islamischer und europäischer als je zuvor in der neueren Geschichte. Die Frage, wie sich das Verhältnis zwischen einer zugleich demokratischen und modern-islamischen Türkei und der Europäischen Union entwickelt, findet auch in Kreisen muslimisch-arabischer Intellektueller Beachtung. Eine etwaige Mitgliedschaft der Türkei in der EU wäre eine besonders attraktive Variante des Islam in Europa. Demgegenüber stößt das Konzept eines Euro-Islam dort auf kaum mehr als marginales Interesse. Man werde sich in eine derartige Diskussion nicht einmischen oder sich gar an ihr beteiligen, heißt es, wo immer gelegentlich in der arabischen Presse darauf Bezug genommen wird. So dürfte sich auch die bisweilen gehegte Erwartung, dass Europa Ausgangspunkt der Erneuerung des Islam insgesamt sein werde (NZZ, 22.1.2005), kaum erfüllen.

Die Erneuerung muss aus den unterschiedlichen Gesellschaften der islamischen Welt selbst kommen. Wichtige Schritte in diese Richtung werden in Indonesien und Malaysia, in Iran und Ägypten unternommen. Auch in der Türkei wird über religiöse Erneuerung diskutiert. Da der Islam keine Kirche kennt, über die Erneuerung transportiert werden kann, ist diese ein Prozess mit vielen regionalen Facetten. Sie ist zugleich von einem weitreichenden gesellschaftlichen und politischen Wandel in der islamischen Welt nicht zu trennen.