Deutschland und der Nahe und Mittlere Osten - November 2005

Veröffentlicht: Dienstag, 26. Februar 2008 18:35
I. Geschichtliche Hintergründe

Unter dem „Nahen und Mittleren Osten“ werden hier der arabische Raum zwischen Ägypten und dem Indischen Ozean (und Israel), der Persische Golf und Iran sowie Afghanistan und Pakistan verstanden. Im geschichtlichen Überblick gehörte die Region nicht zu den dominierenden Feldern deutscher Außenpolitik. Die Allianz Deutschlands mit dem Osmanischen Reich, die in der Reise Kaiser Wilhelms II. nach Konstantinopel und Palästina (1898) ein sichtbares Siegel erhielt, war wirtschafts- und machtpolitisch motiviert, kam jedoch spät im Vergleich zu der Nahostpolitik anderer europäischer Großmächte, insbesondere Englands und Frankreichs. Der Zusammenbruch des Deutschen und Osmanischen Reiches 1918 setzte dem deutschen Ehrgeiz, im Konzert europäischer Großmächte im Raum Mittelmeer und Naher/Mittlerer Osten mitzuspielen, ein jähes Ende. Trotz vereinzelter Bemühungen um die Herstellung von Beziehungen zu Staaten in der Region und der Unterstützung insbesondere arabisch-nationalistischer Kräfte (gegen Großbritannien) nach 1933 kann auch in der Zeit der Weimarer Republik und des Dritten Reiches kaum von einer deutschen Nahostpolitik gesprochen werden. Auch am Wettlauf um die an Bedeutung gewinnenden Erdöl-Ressourcen der Region beteiligte sich Deutschland bis 1945 nicht ernsthaft.

Für die Bundesrepublik Deutschland stand die Gestaltung der Beziehungen zu Israel, das 1948 entstand, im Vordergrund einer Politik, die sich geographisch auf den Nahen Osten bezog. Die Beziehungen zu den meisten arabischen Staaten entwickelten sich zwar gut; als Absatzmarkt für deutsche Waren hatte der arabische Raum einen guten, zeitweilig – vor allem mit der Erhöhung der Rohölpreise nach 1970 - einen beachtlichen Stellenwert. Die Araber (und das gilt auch für Iraner und Afghanen) legten bis in die Gegenwart eine durchweg freundliche Haltung gegenüber Deutschland an den Tag. Gleichwohl war die Gestaltung der Beziehungen zur arabischen Welt keine Dimension sui generis im Kontext der Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Sie blieb eine Funktion der Sonderbeziehungen zu Israel. Politische Konzepte und Sandkastenspiele im Kontext des arabisch-israelischen Konflikts, die auf Ablehnung Israels stießen, ließen sich im politischen Raum nicht umsetzen.

Das Schicksal der vom Europäischen Rat am 13. Juni 1980 in Venedig abgegebenen Erklärung zur Beilegung des israelisch-palästinensischen Konflikts ist ein signifikantes Beispiel dafür. Nicht zuletzt auf Einwirken von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher wurde in die im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) im Laufe der zweiten Hälfte der 70er Jahre abgegebenen Erklärungen zum israelisch-arabischen Konflikt mit zunehmender Deutlichkeit das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung aufgenommen. In der „Venedig-Erklärung“ erreichte diese Politik der Deklarationen ihren Höhepunkt. In der Tat kam sie dem arabischen Wunsch nach Schaffung eines unabhängigen palästinensischen Staates entgegen. Das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser wurde anerkannt; zugleich wurde jedoch betont, dass alle Staaten der Region das Recht hätten, innerhalb sicherer und garantierter Grenzen in Frieden zu leben. Erstmals wurde von den Staaten der EG darüber hinaus offiziell die Einbeziehung der PLO in den nahöstlichen Friedensprozess verlangt. Israel wies die Erklärung scharf zurück; auch in Washington stieß der Versuch der EG, einen eigenen Weg zu gehen, auf Kritik. Damit war der umfassendste Versuch, im Nahen Osten eine eigenständige politische Initiative zu ergreifen, der nicht zuletzt auch die deutsche Handschrift trug, gescheitert.

Gleichwohl waren der Zeitpunkt und die politischen Umstände des Prozesses, der zur Erklärung von Venedig führte, für die deutsche Nahostpolitik bezeichnend. Anfang der 70er Jahre hatte die sozial-liberale Koalition (Bundeskanzler Willy Brandt, SPD, und Außenminister Walter Scheel, FDP) zum ersten Mal das Prinzip der „Ausgewogenheit“ als Grundlage einer Politik Deutschlands gegenüber dem Nahen Osten gefordert. Darin war impliziert, das Konzept einer deutschen Nahostpolitik zu entwickeln, das die Gesamtheit der Region ins Auge fassen und israelische wie zugleich auch arabische Interessen und Standpunkte in einen konzeptuellen Ansatz integrieren würde. Die neue Akzentuierung der Nahostpolitik der Bundesrepublik Deutschland ging mit Bemühungen im europäischen Rahmen einher, die Beziehungen zum Mittelmeerraum/Nahen Osten auf eine neue Grundlage zu stellen. Als Ende 1970 die sechs EG-Länder ihre Außenpolitiken zu koordinieren begannen, bot sich der Bundesregierung ein geeigneter Rahmen, in dem sie nahostpolitische Grundsätze verfolgen konnte, die sie Ende 1970 allein noch nicht öffentlich zu vertreten wagte. Am 13. und 14. Mai 1971 stimmten die sechs EG-Außenminister in Paris einem Arbeitspapier einstimmig zu, welches die gemeinsame Haltung der sechs zu den wichtigsten Fragen des Nahostkonflikts festlegte. Dieses Papier entsprach dem Prinzip der Ausgewogenheit, da es sowohl das Existenzrecht und sichere Grenzen für Israel forderte, als auch auf dem Rückzug Israels aus den im Juni-Krieg 1967 eroberten Gebieten bestand.

Mit dem Paradigmenwechsel innerhalb der deutschen Nahostpolitik verbesserten sich auch die Beziehungen zur arabischen Welt nachhaltig. Die arabischen Staaten begrüßten die Zustimmung der Bundesregierung zur Nahostpolitik der EG; einige gaben zu erkennen, dass nunmehr der Weg zur Aufnahme der diplomatischen Beziehungen, die 1965 als Reaktion auf die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel abgebrochen worden waren, frei sei. Mit der diplomatischen Normalisierung war auch der Weg für eine aktive Teilnahme Bonns am Euro-Arabischen Dialog (EAD) geebnet, der seit 1974 - eine Antwort auf den Oktober-Krieg von 1973, die Ölkrise und arabischen Druck auf die EG, zu einem verstärkten Engagement in der Palästina-Frage zu kommen - zwischen der EG und der Arabischen Liga geführt wurde. Dessen erstes und einziges Ergebnis war eine Konferenz im Rahmen der Arbeitsgruppe „Kultur, Arbeit und Soziales“, die im April 1983 in Hamburg ausgerichtet wurde.

Mit der Venedig-Erklärung schien sich die europäische (deutsche) Nahostpolitik politisch übernommen zu haben. Für ein Jahrzehnt jedenfalls vermißt man nennenswerte politische Initiativen mit Blick auf den Raum des israelisch-arabischen Konflikts. Auch hatte sich die politische Agenda verschoben. Im September 1980 hatte der Überfall des irakischen Diktators Saddam Hussein auf die Islamische Republik Iran einen Krieg losgetreten, der den arabisch-israelischen Konflikt zeitweilig in den Hintergrund drängte und die Eingrenzung der von dem revolutionären Iran ausgehenden islamistischen Gefahr an die Spitze der politischen Agenda der westlichen Mächte und ihrer regionalen Verbündeten - selbst Saddam Hussein wurde im Rahmen der anti-iranischen Front ein solcher - treten ließ. Und mit dem Überfall auf Kuwait seitens des irakischen Diktators am 4.8.1990 wurde das kollektive Bemühen, Kuwait zu befreien und dem Völkerrecht Geltung zu verschaffen, weltpolitische Priorität.

II. Wendepunkt Kuwait-Krise?

Für Deutschland markierte die Kuwait-Krise einen Umbruch. Zwei Monate nach dem Überfall des Irak auf seinen Nachbarn sollte die Wiedervereinigung vollzogen werden; ein verändertes Deutschland war im Entstehen. Gleichzeitig befand sich die Sowjetunion, auf die die Sicherheitspolitik der Bundesregierung von Anfang an ausgerichtet gewesen war, in einem Prozess des unaufhaltsamen Zusammenbruchs. Bei Ausbruch der Krise um Kuwait stellte die Bundesregierung klar, dass sie sich durch alle Resolutionen des Sicherheitsrates gebunden fühlte. Als Präsident George Bush am 8.8.1990 ankündigte, er werde Truppen nach Saudi-Arabien entsenden, war damit auch die Frage nach einem deutschen Beitrag gestellt. Am 10.10.1990 entschied die Bundesregierung, einen Verband von Minenräumbooten in das östliche Mittelmeer zu entsenden, um dort an den Golf abgezogene alliierte Schiffe zu ersetzen. Dies löste in Deutschland eine Debatte darüber aus, ob eine solche Maßnahme verfassungsgemäß sei. Der alliierte Aufmarsch war von wachsender Sensibilisierung und Mobilisierung weiter Teile der deutschen Bevölkerung gegen einen möglichen Krieg begleitet. Mit Ausnahme des Sechs-Tage-Kriegs im Juni 1967 hatte niemals zuvor ein Ereignis im Nahen Osten das öffentliche Interesse in solchem Maße erregt. Als die türkische Regierung im Dezember um die Entsendung von Verbänden der Allied Mobile Force (AMF), zu der auch die Bundeswehr Einheiten von Luftwaffe und Heer stellte, ersuchte, löste auch dieser Beitrag auf der Basis des NATO-Vertrags in den politischen Parteien, den Medien, im Militär selbst und in der Öffentlichkeit kontroverse Diskussionen aus. Der mangelnde militärische Beitrag wurde nach Abschluß des Konflikts mit 17,5 Milliarden DM kompensiert. Im Rückblick kann die deutsche Haltung in der Kuwait-Krise als sicherheitspolitische Wasserscheide zwischen der seit dem Beitritt der Bundesrepublik zur NATO im Jahre 1955 geltenden Sicherheitsdoktrin der ausschließlichen Verteidigung gegen einen unmittelbaren Angriff und einem sich seit Beginn der 90er Jahre ausbildenden neuen Sicherheitsbegriff gesehen werden, der auch in Beteiligungen an militärischen Operationen zur Wiederherstellung von Stabilität und Sicherheit außerhalb des „klassischen“ Nato-Verteidigungsbereichs einen Beitrag zur Wahrung der Sicherheit Deutschlands anerkennt.

Nicht zuletzt das Engagement in Afghanistan nach dem Sturz des Regimes der Taliban im Herbst 2001 bewies, in welchem Maße sich die Außenpolitik der Bundesrepublik Deutschland im Prozess einer weitreichenden Neubestimmung ihres Platzes im internationalen System befand. Der Umbruch seit dem Beginn der 90er Jahre und die Wiedervereinigung Deutschlands legten es der Außenpolitik auf, mehr als nur Anpassung an den in der Vergangenheit verfolgten Kurs vorzunehmen. Vielmehr hatten sich auch die Kategorien zu verändern begonnen, innerhalb derer außenpolitische Entscheidungen zu fällen waren. So wurde unter anderem die Frage nach den deutschen Interessen dringlicher gestellt. In die Richtung eines verstärkten Engagements und vertieften konzeptuellen Denkens wiesen dann auch die nicht geringe Zahl von Arbeitspapieren und programmatischen Auslassungen hin, die nach 1990 in den politischen Parteien, den politischen Stiftungen sowie verschiedenen Ministerien, vornehmlich dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit, mit Blick auf die „deutsche Rolle“ im Nahen Osten - sei es bilateral, sei es im Kontext der  EU - erarbeitet worden sind.

In der politischen Wirklichkeit nahm sich der Stellenwert der Nahostpolitik im Rahmen der Außenpolitik Deutschlands dann freilich bescheidener aus, und ein Widerspruch zwischen den zum Teil weitreichenden Konzepten auf der einen und deutlicher Zurückhaltung, wenn es um eine interessengeleitete deutsche Politik im Nahen Osten ging, auf der anderen Seite war unübersehbar. Unter dem Strich blieben lediglich ein paar neue Signale mit Blick auf das israelisch-arabische Verhältnis und - vor allem - auf die als „kritischer Dialog“ in den 90er Jahren gegen erheblichen Widerstand seitens der USA und Israels gepflegte Beziehung mit Iran bemerkenswert. Eine auf die islamische Welt als ganze gerichtete Politik, die dem Faktor der Religion in der Außenpolitik einen höheren Stellenwert hätte geben sollen, ist über Anfänge nicht hinausgekommen. Verglichen mit den großen außenpolitischen Themen wie der Gestaltung des atlantischen Verhältnisses, der Ausgestaltung und der Erweiterung der EU sowie der Osterweiterung der NATO blieb die deutsche Politik im Mittelmeerraum und im Nahen Osten deutlich nachgeordnet. Erst in der Debatte um die Rolle Deutschlands angesichts der Vorbereitung eines Militärschlages zum Sturz des Regimes in Bagdad (2001/02) wurden neue Signale ausgesendet.

III. Engagement im Friedensprozess

Mit dem Beginn des israelisch-arabischen Friedensprozesses Ende 1991, namentlich mit der Unterzeichnung der Declaration of Principles am 13. September 1993, wurden die Gestaltungsräume deutscher Politik mit Blick auf das israelisch-arabische Verhältnis größer. Der sich abzeichnende Ausgleich zwischen Israel und der PLO ließ das Nullsummenspiel, das die deutsche Nahostpolitik jahrzehntelang bestimmt hatte, dass nämlich jedes Zugehen auf arabisch-palästinensische Positionen zulasten der deutsch-israelischen Beziehungen gehen bzw. in Israel auf Ablehnung stoßen könnte, in den Hintergrund treten. Im Verlaufe der folgenden Jahre erlaubte sich die deutsche Regierung sogar gelegentliche Kritik an der israelischen Politik - dies insbesondere an der Fortsetzung der Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten. Bis zum Ausbrechen des palästinensischen Aufstandes im September 2000 war Palästinenserführer Yassir Arafat ein oft und gern gesehener Besucher in Bonn bzw. Berlin.

Die deutsche Nahostpolitik weist bis in die Gegenwart bi- und multilaterale Aspekte auf. Das deutsche Engagement ordnete sich in ein europäisches Interessenprofil ein, nach dem die Herstellung von Frieden und Stabilität in der Region gemeinsames Interesse der der Region benachbarten EU sei. Wichtige politische Schritte wie vor allem die diversen diplomatischen Initiativen Außenminister Fischers (seit 1998) wurden auf europäischer Ebene abgestimmt. Insbesondere entwicklungspolitisch aber forcierte Deutschland auch bilaterale Initiativen. Um die deutsche Hilfe wirkungsvoll zu koordinieren, wurde im August 1994 in Jericho ein Büro des Auswärtigen Amtes eröffnet. Dass Deutschland das erste Land war, das einen solchen Schritt tat, wurde unter den Palästinensern, aber auch international, mit Aufmerksamkeit wahrgenommen.

Der Besuch von Bundeskanzler Kohl in der Region im Sommer 1995 ließ neue Signale anklingen. Die politischen Hilfeleistungen seit 1992 seien „ein weiterer Beweis für das elementare Interesse, das man in Deutschland am Friedensprozeß im Nahen Osten“ habe (Steinbach 1998: 28), sagte der Kanzler bei einem Besuch bei Yassir Arafat in Gaza am 7.6.1995. Damit schien angedeutet, dass die Bundesregierung mit der wirtschaftlichen Hilfe mehr  betreibe als „Scheckbuchdiplomatie“ früherer Jahre.

Die aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen seit Herbst 1998 gebildete Bundesregierung setzte darüber hinausgehend insofern andere Akzente, als insbesondere Außenminister Joschka Fischer stärker als seine Vorgänger eine Vermittlerrolle zwischen Israelis und Palästinensern zu spielen suchte. Dabei waren die Beziehungen während der Amtszeit von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu (1996 bis 1999) nicht frei von Irritationen. Fischers Antrittsbesuch in Israel als deutscher Außenminister am 11.2.1999 war von diplomatischen Querelen  begleitet. Regierungskreise in Israel machten keinen Hehl daraus, dass man die Haltung der EU als „pro-palästinensisch“ ansehe. Wenig später kam es zu einer neuerlichen Verstimmung. Ärgerlich reagierte die israelische Regierung auf die vom Berliner Gipfel vom 26.3.1999 verabschiedete Erklärung, in der die EU die Gründung eines palästinensischen Staates unterstützte. Als Teil des Bestrebens, auf Arafat einzuwirken, die für den 4. Mai 1999 geplante Proklamation des Staates „Palästina“ zu unterlassen, hieß es: „Die EU bekräftigt das dauerhafte und uneingeschränkte Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung einschließlich der Option für einen Staat und sieht einer baldigen Verwirklichung dieses Rechts erwartungsvoll entgegen (Mattes 1999 : 15).“ Während die Regierung Netanjahu darin eine Gefährdung der Sicherheit sah, hieß es in der Erklärung, dass die Schaffung eines demokratischen, existenzfähigen und friedlichen palästinensischen Staates die beste Garantie für die Sicherheit Israels sei. Die EU sei bereit, eine Anerkennung dieses Staates „zu gegebener Zeit in Erwägung zu ziehen“ (Ibidem).

Die Reise von Bundeskanzler Schröder in den Nahen Osten Ende Oktober 2000 stand bereits im Zeichen der Gewalttätigkeiten, die am 28.9.2000 zwischen Israel und den Palästinensern ausgebrochen waren (Al-Aqsa-Intifada). Er wollte deutlich machen, dass die Rückkehr an den Verhandlungstisch „jetzt erst recht geboten“ sei, erklärte der Bundeskanzler vor seiner Abreise (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.10.2000). Die Reise bot Anlaß, die Rolle der Bundesrepublik Deutschland im Nahen Osten grundsätzlich zu reflektieren. Nachdrücklich wies der Bundeskanzler darauf hin, dass es keine eigene deutsche Nahostpolitik, sondern nur einen deutschen Beitrag zu einer europäischen Nahostpolitik geben werde.

Angesichts der Eskalation des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern zeigte Bundesaußenminister Fischer in den Jahren 2001/2002 ein präzedenzlos hohes Profil bei seinen Versuchen, ein Ende der Gewalttätigkeit herbeizuführen. Dabei trug Fischer der Tatsache Rechnung, dass Deutschland auf beiden Seiten des Konflikts Respekt entgegengebracht wurde. Bei seinen Reisen in die Region blieb dem deutschen Außenminister ein dauerhafter Erfolg versagt. Dies gilt auch für Fischers  im Jahre 2002 entwickelten Friedensplan. Immerhin aber wurde dieser Teil der politischen Bemühungen, die das internationale „Quartet“ (USA, UNO, EU und Russland) im Verlaufe des Jahres 2002/3 unternahm, um ein Ende der Gewalt herbeizuführen und Perspektiven für die Aufnahme von politischen Verhandlungen mit Blick auf die Schaffung eines palästinensischen Staates zu eröffnen (Road Map).

IV. Iran und Afghanistan

Die Interdependenz von Entwicklungen in der Golfregion mit denen in anderen Subregionen des Nahen Ostens, vor allem im Kontext des arabisch-israelischen Konflikts, ist in der Vergangenheit immer wieder zu Tage getreten. Dies gilt sowohl für die Islamische Revolution und ihre Folgen als auch für den Konflikt, der mit der Besetzung Kuwaits durch den Irak am 2. 8. 1990 ausbrach. Auch Verlauf und Auswirkung der Irak-Krise 2002/3 haben den gesamten Nahen und Mittleren Osten tiefgreifend berührt. Die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands in der Region und das Gewicht der Akteure mit Blick auf den gesamten Raum machen den Persischen Golf zum Bestandteil eines Konzepts von Nahostpolitik, das die ganze Region zwischen Zentralasien und Nordafrika im Blick haben sollte.

Zwar sind die Handlungsspielräume einer deutschen Politik am Persischen Golf begrenzt. Dies gilt namentlich auch für die Arabische Halbinsel, wo die USA die dominierende Macht sind. In den Beziehungen zu Iran freilich wurden durch die deutsche Politik Akzente gesetzt, die Wandlungsprozesse im Land gestärkt und damit über die Golfregion hinaus zur Stabilisierung des Nahen Ostens beigetragen hat. Was seit 1992 als „kritischer Dialog“ in der Öffentlichkeit skeptisch diskutiert wurde, war zunächst nichts anderes als eine pragmatische Antwort auf die Frage nach einer Strategie, ein Regime in das internationale System zurückzuholen, das sich mit seiner revolutionär-islamistischen Ideologie ein neues Koordinatensystem für innen- und außenpolitisches Handeln geschaffen hatte. Insbesondere der Beitrag der deutschen Außenpolitik beim Zustandekommen des Waffenstillstands zwischen dem Irak und Iran (1987/88) war geeignet, zu weiteren Anstrengungen zu ermutigen, durch Kontakte, Zusammenarbeit und einen Dialog über Fragen und Forderungen, die vom westlichen Standpunkt aus an die iranische Führung zu stellen waren, einen Wandel des politischen Verhaltens herbeizuführen.

Die Themen dieses Dialogs betrafen keine spezifisch deutschen Anliegen: Die Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte und nach der Aufhebung der „Fatwa“ Ayatollah Khomeinis, den britischen Schriftsteller Salman Rushdie wegen dessen Roman „Die Satanischen Verse“ zu töten, ein Ende des Exports von Terrorismus, die Sorge, Iran könne nuklear aufrüsten und damit zu einer Bedrohung der ganzen Region, vornehmlich Israels, werden, und schließlich die Bemühungen, Irans Widerstand gegen den arabisch-israelischen Friedensprozeß zu beseitigen, waren Anliegen, die von der internationalen Gemeinschaft weithin geteilt wurden. Dass der deutschen Seite bei der Ausgestaltung des Dialogs ein besonders hohes Profil bis zu dem Punkt zukam, dass der „kritische Dialog“ nahezu mit Deutschland identifiziert wurde, hat - neben anderem - wahrscheinlich mit der besonderen geschichtlichen Qualität der deutsch-iranischen Beziehungen und damit zu tun, dass die iranische Führung nach der deutschen Wiedervereinigung ihren Beziehungen mit Deutschland im Rahmen ihrer „Westpolitik“ einen besonderen Stellenwert einräumte. Schließlich aber stand der Dialog auch angesichts des „Mykonos-Prozesses“, in dem es aufgrund der von Anfang an bekannten Verwicklung des iranischen Geheimdienstes in die Ermordung von vier kurdischen Oppositionspolitikern in Berlin um einen Fall von Staatsterrorismus ging, im Mittelpunkt einer kritischen Aufmerksamkeit.

Der „Kritische Dialog“ ließ einen europäisch-amerikanischen Dissens entstehen, der wiederum in den deutsch-amerikanischen Beziehungen mit besonderer Schärfe ausgetragen wurde. Der Politik des Dialogs setzte Washington eine Politik der Sanktionen und des Embargos entgegen, um Teheran zu einer Änderung seiner Politik zu bewegen. Die Verhängung eines vollständigen Handelsboykotts im April 1995 durch die amerikanische Regierung verschärfte auch den Druck auf die Bundesregierung, der amerikanischen Politik zu folgen. Mit bislang kaum gekannter Standfestigkeit hat die Bundesregierung in ihrer Iran-Politik Differenzen mit Washington in Kauf genommen. Dies fiel um so schwerer, als Israel die amerikanischen Positionen übernahm und auf vielfältige Weise versuchte, die deutsche Politik zu beeinflussen. Es kann als ein Symptom einer Versachlichung des deutsch-israelischen Verhältnisses bewertet werden, dass die Bundesregierung hart blieb.

Die Bundesregierung hat bei der Gestaltung der deutsch-iranischen Beziehungen Realpolitik betrieben. Dabei hat sie sich über die öffentliche Meinung ebenso hinweggesetzt wie über die Einwände von Verbündeten und Freunden sowie die Kritik im Parlament (das ein Signal zu setzen suchte, als es Bundesaußenminister Klaus Kinkel am 10. 11. 1995 dazu zwang, den iranischen Außenminister Velayati von seiner für den 15./16. 11. geplanten spektakulären „Islam-Konferenz“ auszuladen, was den Bundesaußenminister veranlaßte, die Konferenz insgesamt abzusagen, um Iran nicht zu brüskieren). Realpolitisch war auch die Reaktion auf das iranische Atomprogramm, das Anfang 2003 bekannt wurde. Gegen den Widerstand Washingtons setzten Berlin, Paris und London auf Gespräche. Wenn auch ein im Oktober 2003 erzielter Kompromiss in der Folge von Teheran wiederholt unterlaufen wurde, zeigten sich Ende 2005 beide Seiten - trotz radikaler Äußerungen des im Juni 2005 gewählten Präsidenten Ahmadinejad zu Israel - noch immer gesprächsbereit. Dabei ließ freilich die neue Bundesregierung unter Kanzlerin Angela Merkel nicht erkennen, daß sie die iranische Forderung nach vollständiger Beherrschung der friedlichen Nutzung der Kernenergie akzeptieren würde.
Wie die Entwicklung des deutsch-iranischen Verhältnisses zeigte auch die Entwicklung des deutsch-afghanischen Verhältnisses nach dem Terrorattentat vom 11.9.2001, dass der Nahe und Mittlere Osten einen wachsenden Stellenwert in der Außenpolitik Deutschlands einnimmt. Mit der kommunistischen Revolution in Kabul vom April 1978 war eine aktive deutsche Afghanistan-Politik weitgehend zum Erliegen gekommen. Bis dahin hatte sich die Zusammenarbeit insbesondere in den Bereichen Entwicklungs-, Bildungs- und Kulturpolitik auf einem für das Entwicklungsland am Hindukusch relativ gehobenen Niveau bewegt. Die kollektive Erinnerung daran war einer der Gründe dafür, dass viele Afghanen, die während der 80er und 90er Jahre aus politischen Gründen gezwungen waren, das Land zu verlassen, in Deutschland Asyl suchten und fanden. Beim politischen und wirtschaftlichen Wiederaufbau Afghanistans engagierte sich die deutsche Regierung von Anfang an nachhaltig. Wenn auch der Zusammenhang nicht ausdrücklich hergestellt wurde, so war die Bereitstellung deutscher Soldaten gleichwohl im Zusammenhang mit der Afghanistan-Konferenz zu sehen, die am 27.11.2001 von Bundesaußenminister Fischer auf dem Petersberg bei Bonn eröffnet wurde. Die Wahl des Konferenzortes wurde auch vom Ausland als ein bedeutender Erfolg deutscher Außen- und Nahostpolitik vermerkt. Am 5.12. verständigten sich die afghanischen Delegierten unterschiedlicher politischer, ethnischer und religiöser Couleur auf ein Abkommen über „provisorische Arrangements bis zur Wiederherstellung permanenter staatlicher Institutionen“. Von Teilnehmern und Beobachtern erhielt Gastgeber Deutschland für seine Vermittlung Lob. Führende deutsche Politiker machten zugleich deutlich, dass Deutschland auch für die Zukunft Afghanistans ein weitreichendes Engagement übernehmen wolle. Dessen signifikanteste Komponente war die Beteiligung an der „Internationalen Sicherheits-Unterstützugstruppe“ (ISAF). Am 21.12.2001 beschloß das Bundeskabinett die Bereitstellung von 1200 deutschen Soldaten. Deren Zahl stieg bis 2005 auf 2200.

Im Kontext der Bekämpfung des Taleban-Regimes und der Al-Qa’ida trat auch Pakistan stärker in das Blickfeld der deutschen Außenpolitik. Seit seiner Gründung war das Land von der deutschen Außenpolitik wirtschaftlich und politisch kaum wahrgenommen worden. Auch das Aufflackern des deutschen Interesses im Herbst 2002 stellte sich bald als kaum mehr als ein Strohfeuer heraus: Der Strom politischer Besucher, der auch Bundeskanzler Schröder am 28.10. - für nur wenige Stunden des Zwischenaufenthaltes auf einer Asien-Reise – nach Islamabad brachte, verebbte wieder. Das Land fiel in den Windschatten deutscher Politik zwischen Indien, Afghanistan und Zentralasien zurück.

V. Die arabischen Länder am Golf

Im Gegensatz zu den profilierten Beziehungen mit Iran blieb die deutsche Politik gegenüber anderen Teilen der Golfregion relativ schwach. Was die konservativen Regierungen auf der Arabischen Halbinsel betrifft, waren die Beziehungen – über jenen „benign neglect“, den deutsche Regierungen herkömmlich gegenüber diesem Teil der Welt an den Tag gelegt haben, hinaus – durch die Tatsache geprägt, dass sich Deutschland nicht militärisch an der Golfallianz beteiligt hatte, die 1991 die Befreiung Kuwaits von der irakischen Besetzung erzwungen hatte. Gerade auch von den wirtschaftlichen Implikationen dieser Beziehungsschwäche konnte sich Deutschland nur langsam erholen.

Es wäre ungerechtfertigt, festzustellen, dass die Beziehungen Deutschlands zum Irak – wenn davon überhaupt gesprochen werden kann – nur im Schatten der Beziehungen zum Nachbarland Iran gestanden haben. Die Sanktionspolitik der UNO sowie die Verletzbarkeit der deutschen Wirtschaft – einige Firmen waren über die Jahre beschuldigt worden, sich in den 80er Jahren am Aufbau eines Potentials chemischer Kampfstoffe im Irak beteiligt zu haben, was in einer gesteigerten Aufmerksamkeit der deutschen Justiz hinsichtlich der Einhaltung der Sanktionen resultierte – erlegten Politik und Wirtschaft eine extreme Zurückhaltung auf, gegenüber dem Irak Initiativen zu unternehmen, die nach einer Verletzung des Sanktionsregimes hätten aussehen können. Unabhängig davon aber war auch kaum zu verkennen, dass sich die Bonner Politik außerstande fühlte, angesichts des Widerstandes gegen den „kritischen Dialog“ mit Teheran in Sachen Irak gegenüber den USA gleichsam eine zweite Front zu eröffnen. Eine Reihe europäischer Länder, vor allem Frankreich, empfing nicht nur hochrangige irakische Gesprächspartner auf offizieller Ebene; vielmehr gaben sich auch Geschäftsleute aus zahlreichen Ländern (darunter vor allem auch aus Russland) in Bagdad die Klinke in die Hand, um die geschäftlichen Weichen für den Tag zu stellen, da die Sanktionen aufgehoben bzw. gelockert werden sollten. Deutschland enthielt sich dieser Art geschäftsmäßiger Annäherung: Politische Kontakte wurden weitgehend gemieden; dies galt für Besuche von deutschen Abgeordneten in Bagdad wie für die Wahrnehmung gelegentlicher irakischer Besucher in Bonn, denen die Türen der Büros von Spitzenpolitikern verschlossen blieben. Dies galt aber auch für die zurückhaltenden geschäftlichen Kontakte. Selbst die Lockerung der Sanktionen durch das Zugeständnis der UNO an den Irak, für einen begrenzten Betrag aus Öleinnahmen Lebensmittel und Medikamente einkaufen zu dürfen, hatte keine positiven Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft.

Kein Wunder, dass die Stimme Bonns in der Krise zwischen Bagdad und Washington Ende 1997/Anfang 1998 kaum zu vernehmen war. Dabei ging es um nichts weniger als die Frage nach der Gerechtigkeit und politischen Sinnhaftigkeit eines Sanktionsregimes, das nach sieben Jahren deutliche Zeichen der Aushöhlung erkennen ließ. Dass es hierüber Divergenzen zwischen den USA auf der einen (unterstützt durch Großbritannien) und anderen Mitgliedern des Sicherheitsrates auf der anderen Seite gab, hatte Saddam Hussein einen Spielraum gegeben, über die Zusammensetzung der Rüstungs-Inspektionsteams das Sanktionsregime insgesamt herauszufordern. Einmal mehr tat sich dahinter mit Nachdruck die Frage auf, inwieweit Europa sich einer amerikanischen Auslegung einer politischen Konstellation im Nahen Osten zu unterwerfen haben würde oder ob es sich demgegenüber nicht vielmehr in Stand setzen sollte, einen eigenen Standort und eine eigene Strategie zu formulieren, die es, aufbauend auf einer europäischen Sichtweise und europäischen Interessen, mit den USA partnerschaftlich und fair zu erörtern und abzustimmen gelte.

Wenige Monate nach ihrem Amtseintritt sah sich die rot-grüne Regierung im Dezember 1998 mit dem massiven amerikanisch-britischen Bombardement des Irak vor eine Herausforderung gestellt. Dabei zeigten sich differenzierende Einschätzungen unter den Koalitionspartnern. Bundeskanzler Schröder erklärte, die deutsche Solidarität mit den Bündnispartnern stehe außer Frage. Außenminister Fischer apellierte an die internationale Staatengemeinschaft, mit aller Kraft auf die Aufhebung der Sanktionen und die Aufnahme des Irak in die internationale Staatengemeinschaft hinzuarbeiten. Den Worten aber folgten keine Taten. An einer Diskussion um die Zukunft des Sanktionsregimes im Sicherheitsrat der UNO, in der sich die USA auf der einen und Frankreich, Russland und China auf der anderen Seite gegenüberstanden, nahm Deutschland nicht teil. Nach wie vor wurde in Regierungskreisen die Einschätzung gehört, dass es sich bei dem Irak im wesentlichen um ein „Einflussgebiet der USA“ handle.

VI. Deutschland und der Krieg gegen den Irak

Die Ankündigung Präsident George W. Bushs nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001, den Sturz des irakischen Diktators Saddam Hussein zu betreiben, konfrontierte die Berliner Regierung mit einer schwierigen Situation: Auf der einen Seite hatte Bundeskanzler Schröder dem amerikanischen Präsidenten „uneingeschränkte Solidarität“ zugesagt, was unter anderem in den folgenden Monaten zu einem auch erheblichen militärischen Engagement im Kontext des Kampfes gegen den Terror führte. So kündigte er am 6.11. an, Deutschland werde zur Bekämpfung des Terrorismus Bundeswehreinheiten aller Waffengattungen, maximal 3900 Mann, zur Verfügung stellen. Dabei berief er sich auf eine entsprechende Anfrage Washingtons und sprach von einer historischen Entscheidung für die deutsche Politik. Auf der anderen Seite regte sich in breiten Teilen der Bevölkerung und der politischen Klasse erheblicher Widerstand gegen eine Unterstützung Washingtons im Falle eines amerikanischen Angriffs gegen den Irak. Bei seinem Besuch in Berlin im Mai 2002 sagte der amerikanische Präsident Bundeskanzler Schröder zu, sich bei einem möglichen militärischen Vorgehen gegen den Irak mit den internationalen Verbündeten zu beraten. Während Bush betonte, die USA hielten sich alle Optionen offen, sagte der Bundeskanzler, der politische Druck auf den Irak müsse möglichst stark sein, damit wieder internationale Beobachter ins Land gelassen würden.

In den folgenden Monaten freilich wurden die amerikanischen Vorbereitungen für ein militärisches Vorgehen immer unverhohlener vorangetrieben. Das Argument der Bundesregierung, man sei über Kriegsvorbereitungen nicht informiert und es lägen keine Anfragen diesbezüglich aus Washington vor, wurde immer weniger überzeugend. Offen wurde die Frage diskutiert, ob Deutschland sich an einer bewaffneten Operation beteiligen solle. Während die Bundesregierung mit zunehmender Deutlichkeit erkennen ließ, dass Deutschland dafür nicht zur Verfügung stehe, wollte die Opposition dies nicht ausschließen. Die Klärung des Bundeskanzlers kam schließlich mit dramatischem Akzent: In einer Wahlkampfveranstaltung am 4.8.2002 in Hannover machte Schröder deutlich, dass es mit ihm keine Beteiligung an einem Militäreinsatz gegen Bagdad geben werde; dies auch nicht in Form einer „Scheckbuchdiplomatie“.  Deutschland leiste zwar Solidarität mit den Partnern, stehe aber „für Abenteuer nicht zur Verfügung“. Er werde die Frage einer deutschen Beteiligung auch zum Thema des Wahlkampfes machen. Im Verlauf der weiteren Diskussion erweiterte der Bundeskanzler die Weigerung Deutschlands auch auf den Fall, dass eine solche Militäraktion durch den Sicherheitsrat der UNO abgesegnet werden sollte.

Diese Feststellung gewann an politischer Brisanz, als Präsident Bush sich am 12.9.2002 vor der Vollversammlung der UNO bereit erklärte, dem Inspektionsprozeß auf der Grundlage einer Resolution des Sicherheitsrates eine letzte Chance zu geben. Nach langem Ringen wurde am 8.11. die Resolution 1441 verabschiedet, die dem Irak für den Fall einer Verletzung der die Inspektionen betreffenden Auflagen der Resolution „schwerwiegende Konsequenzen“ androhte.

Die Reaktionen auf Schröders Erklärung haben in den folgenden Wochen und Monaten weitreichende Implikationen erkennen lassen. Innenpolitisch hat der Standpunkt Schröders nicht unerheblich dazu beigetragen, der Koalition in den Wahlen vom 22.9. wieder eine – knappe – Mehrheit zu sichern. Mit Bezug auf die USA war die Zukunft der Qualität der Beziehungen zwischen Berlin und Washington gestellt. Und diese Frage war aufs engste mit der Perspektive einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik, insbesondere mit Blick auf den Nahen Osten und die islamische Welt verbunden. Aufgeworfen aber war auch die Frage nach der Rolle der UNO – und Deutschlands darin – im Rahmen eines sich verändernden internationalen Systems.

Im arabischen Raum wurde die Rede vom „deutschen Weg“, der nicht mehr in jedem Falle nach Washington führt, mit unverhohlener Zustimmung aufgenommen. In der Wahrnehmung breiter Kreise der arabischen Öffentlichkeit (und darüber hinaus in der islamischen Welt) spielte Deutschland die Rolle, die man ihm seit langem zuschrieb. In Israel wurde die deutsche Entscheidung dagegen mit Skepsis aufgenommen.

In Berlin war seither eine Intensivierung der politischen und kulturpolitischen Kontakte zwischen Berlin und den arabischen Ländern zu beobachten. Der Kanzler vermehrte seine Besuche in arabischen Hauptstätten, wobei er zugleich als Promotor der deutschen Wirtschaft auftrat. Dass „Arabien“ zum Partner der Frankfurter Buchmesse im Oktober 2004 ausgewählt wurde, war ein besonders sichtbares Signal mit Blick auch auf den steigenden Stellenwert der arabischen Welt im Rahmen deutscher Außenpolitik.

VII. Gesellschaftliche und institutionelle Aspekte deutscher Nahostpolitik

„Nahostpolitik“ hat in Gesellschaft und Öffentlichkeit nur eine verhältnismäßig schwache Verankerung erfahren – dies gilt auch trotz einer unübersehbar gesteigerten Aufmerksamkeit, die der Region insgesamt in den letzten Jahren zugewendet wurde. Dass Israel trotz des angedeuteten Trends noch immer durch vielfältige Instrumente und Maßnahmen erzeugte hohe Sichtbarkeit zukommt, bedarf keiner Erläuterung. Die arabische Welt oder Iran haben keine wirkliche „Lobby“. Die Deutsch-Arabische Gesellschaft führt eine Randexistenz; es ist bezeichnend für den geringen Stellenwert des „Arabischen“, dass bislang kein Bedarf empfunden wurde, nachhaltigere Versuche zu machen, ihr – entsprechend der deutsch-israelischen Gesellschaft – ein sichtbareres Profil zu verleihen. Afghanistan ist nicht zuletzt aufgrund der Präsenz deutscher Soldaten in dem Land verstärkt ins Blickfeld der Öffentlichkeit getreten. Das diplomatische Corps in Berlin der hier betrachteteten Staatenwelt ist – im Gegensatz zu der äußerst aktiven Lobbyarbeit der israelischen Botschaft – unsichtbar und uneffektiv, wenn es darum geht, arabische Standpunkte in Politik und Öffentlichkeit zu vermitteln. Interessengruppen, wie sie auf vielfältigen Ebenen mit Bezug auf Israel bestehen, sind mit Blick auf den Rest des Nahen Ostens in Deutschland nicht zu erkennen. Auch die Wirtschaft hat bislang kaum ernsthafte Bemühungen unternommen, Einfluß auf die Nahostpolitik und die Öffentlichkeit im Sinne verstärkter Wahrnehmung deutscher Interessen in der Region zu nehmen.

Auffallende Veränderungen haben sich in der Darstellung der Ereignisse im Nahen Osten von Seiten der Medien ergeben. Dies bezieht sich insbesondere auf die Darstellung des israelisch-arabischen Verhältnisses: Namentlich in den Printmedien und im Rundfunk hat größere Objektivität Platz gegriffen, die auch arabische Standpunkte deutlicher reflektiert als in der Vergangenheit. Ansonsten aber ist die Berichterstattung durch weiße Flecken gekennzeichnet – dies bezieht sich vor allem auf die Arabische Halbinsel.

Anders als im Falle der „klassischen Kolonialmächte“ in der Region, England und Frankreich, hält sich auch die kulturpolitische Präsenz Deutschlands – von Ausnahmen abgesehen – in deutlichen Grenzen. Bei aller Beliebtheit „der Deutschen“ – die Gründe dafür freilich sind kaum eindeutig zu analysieren – ist die Kenntnis der deutschen Sprache (wie in anderen Teilen der Welt auch) rückläufig. Das gesteigerte politische Interesse an der Region wird andererseits durch die Verstärkung der Arbeit der politischen Stiftungen reflektiert. Vor allem in den mediterranen Teilen des Nahen Ostens (mit der Ausnahme Syriens), aber auch im Jemen und in Pakistan entfalten die Stiftungen aller Couleur eine breite Palette von gesellschaftspolitischen Aktivitäten. Nach Lage der Dinge haben sie auch begonnen, ihre Fühler in den Iran auszustrecken. Die Handlungsspielräume der Stiftungen sind je nach den politischen Rahmenbedingungen unterschiedlich groß.

Bemerkenswert sind schließlich punktuelle Ansätze der deutschen Außenpolitik, die islamische Religion zu einer Facette deutscher Politik im Nahen Osten und in der islamischen Welt zu machen. Auf den Plan einer spektakulären Islam-Konferenz, die Bundesaußenminister Kinkel für den 15./16.11.1995 einzuberufen gedachte, ist bereits hingewiesen worden. Damit hätte ein Zeichen eines besonderen Respekts gegenüber Ländern gesetzt werden sollen, die von dieser Religion geprägt sind. Im gleichen Geist und in Besorgnis um die Zukunft eines gedeihlichen Verhältnisses zwischen dem Westen und der islamischen Welt unternahm im Herbst 1998 Bundespräsident Roman Herzog eine weitere Initiative, den Dialog mit der islamischen Welt zu intensivieren. Er konnte die Staatsoberhäupter bzw. Regierungschefs aus Ägypten, Finnland, Italien, Jordanien, Malaysia, Marokko, Norwegen und Spanien dafür gewinnen, Forschungsinstitute aus den genannten Ländern zu bitten, auf der Basis von Untersuchungen zu konkreten Arbeitsfeldern sowohl Gemeinsamkeiten zwischen westlichen und islamischen Kulturen herauszuarbeiten, als auch über die bestehenden Unterschiede aufzuklären. In einem weiteren Schritt wurden die Teilnehmer aufgerufen, praktische Empfehlungen zur Prävention und Entschärfung künftiger Konflikte zwischen Gesellschaften westlich und islamisch geprägter Kulturen vorzuschlagen. Die „Berliner Erklärung“, die am Ende einer Tagung mit Teilnehmern aus den genannten Ländern am 23.4.1999 (Bielefeldt 1999 : 18-47) in Schloß Bellevue, dem Amtssitz des Bundespräsidenten, verkündet wurde, bringt das Programm des „Dialogs der Kulturen“ zum Ausdruck. Auch Herzogs Nachfolger Johannes Rau hat sich zu Beginn seiner Amtszeit der „Berliner Erklärung“ verbunden gefühlt.

Auch nach dem „11. September“ war der „Dialog der Kulturen“ im Munde zahlreicher Politiker. Besonders sensibilisiert zeigte sich das Auswärtige Amt. Heraus kam freilich eine – aus „Antiterror-Mitteln“ finanzierte – Initiative, in der sich die Bürokratie selbst zum wesentlichen Akteur dieses „Dialogs“ machte. Im Hause wurde eine stattliche Abteilung unter Leitung eines in der islamischen Welt erfahrenen Diplomaten geschaffen. Eine erhebliche Zahl zum Teil junger Absolventen der Islamwissenschaft wurde rekrutiert, um die Abteilung „Dialog mit der islamischen Welt“ zu besetzen und – vor allem als „Islam-Beobachter“ – an Botschaften vornehmlich in der islamischen Welt geschickt zu werden. Dort sollen sie über Entwicklungen in der „islamischen Szene“ berichten. Wenn zum Zeitpunkt des Abschlusses des Beitrags unklar bleibt, was aus dieser Initiative herauskommen soll, so hatte sie doch das positive Ergebnis, zahlreichen Absolventen der Islamwissenschaft den Einstieg in eine nützliche, mit ihrem Studium verbundene Tätigkeit verschafft zu haben. Im übrigen schaltete das Auswärtige Amt das wesentlich aus seinen Mitteln finanzierte „Institut für Auslandsbeziehungen (IfA)“ in Stuttgart ein, um inhaltliche Schritte des Dialogs zu unternehmen.