Die muslimische Migration nach Europa - Januar 2006

Veröffentlicht: Donnerstag, 28. Februar 2008 18:37
Unser Oberthema lautet: „Zwischen Toleranz und Terror- vor dem Ende der multikulturellen Gesellschaft?“. Diese Formulierung meint wohl den üblichen Verdächtigen. Da kann es eigentlich nur um einen gehen: nicht den Hinduismus oder Buddhismus und auch nicht das Christentum, sondern den Islam. Wieder einmal stellen wir uns selbst auf ein Treppchen und nehmen ganz selbstverständlich Toleranz für uns in Anspruch. Terror - das ist die andere Seite; natürlich nicht „der Muslim“, auch nicht „der Islam“, doch suggeriert wird, dass Terror und eben Islam nicht weit auseinander liegen.

In den folgenden Reflektionen möchte ich nicht zu sehr in die Aktualität gehen, auch nicht allzu tief in die sozialen Problemlagen einsteigen, die mit dem Stichwort „Parallelgesellschaft“ oder den Unruhen in Frankreich im Jahr 2005 verbunden sind. Wenn wir vielmehr allgemeiner über den Raum zwischen Terror und Toleranz reflektieren, dann wird am Ende die Erkenntnis stehen, dass beide Arten der Begegnung und des Umgangs mit „dem anderen“ unakzeptabel bzw. unzureichend sind. Die Toleranz als Attitüde des Ertragens in den Beziehungen zwischen der nicht-muslimischen Mehrheitsgesellschaft und der muslimischen Minderheit ist à la longue keine tragfähige Grundlage der Koexistenz. Ertragen ist ein subjektiver Begriff; man erträgt jemanden oder etwas, solange man dies für richtig und angemessen hält. Wandelt sich die Konjunktur, wird auch die Bereitschaft zum Ertragen schwächer. Europas Geschichte weist diesbezüglich genügend Beispiele auf. Der Terror als Umgang mit dem anderen, als Antwort auf Frustration und Ärger, wie tiefsitzend sie immer sein mögen, ist freilich eine von Anfang an unakzeptable Form der Reaktion.

Ein Blick in die uns umgebende Öffentlichkeit lässt ein hohes Maß an Irritation in der Begegnung insbesondere mit dem Islam oder Muslimen erkennen. Dies selbst bei Persönlichkeiten, von denen eigentlich angenommen werden dürfte, sie wüssten es besser oder sähen es gelassener. Ich erinnere mich an ein Interview des berühmten angloamerikanischen Islamwissenschaftlers Bernard Lewis: Darin stellt der Nestor der Islamwissenschaft fest, dass Europa nach den aktuellen Trends spätestens bis Ende des 21. Jahrhunderts muslimische Mehrheiten in der Bevölkerung aufweisen werde. Er schließt mit dem apodiktischen Satz, dass Europa am Ende des 21. Jahrhunderts ein „Teil des arabischen Westens“ sein werde. Frits Bolkestein, bis Oktober 2004 Mitglied der Europäischen Kommission unter Präsident Romano Prodi, warnte in einer Rede im Jahr 2004 vor Einwanderung aus islamischen Ländern und zeichnete ein düsteres Bild. Die USA, so seine Schlussfolgerung, blieben die einzige Supermacht, China werde ein ökonomischer Gigant; „Europa wird islamisiert“. So einfach sieht das aus. Bolkestein erinnert dann an die türkische Belagerung Wiens  im Jahre 1683 und verbindet das mit den Argumenten von Bernard Lewis: "Ich weiß nicht", so Bolkestein", ob es diesen Lauf nehmen wird, aber sollte er (Bernard Lewis) recht behalten, dann wäre die Befreiung Wiens 1683 vergeblich gewesen". In diesen Worten liegen unüberhörbar Unbehagen und Gereiztheit; keine gute Voraussetzung für Toleranz.

Um Unbehagen, Gereiztheit und Feindseligkeit angesichts der Perspektive muslimischer Migration nach Europa in einen breiteren Kontext zu stellen und vielleicht verständlich und erklärbar zu machen, ist zunächst der Hinweis notwendig, dass sich Europa tatsächlich in vielfältiger Weise – und die Migration ist nur eine von ihnen – im Prozess eines tiefgreifenden Umbruchs befindet. Vier Verlusterfahrungen scheinen mir in diesem Falle besonders signifikant: der Verlust an nationaler Identität, die noch immer nicht durch eine klare europäische Identität ersetzt ist; der Verlust an Wohlstand im Kontext der Globalisierung; der Verlust an Menschen im Kontext der negativen Bevölkerungsentwicklung; und der Verlust an Religion, der eine unbehagliche Beliebigkeit zur Folge hat.

Diese vierfache Verlusterfahrung scheint mir unsere Wahrnehmung nicht zuletzt auch gegenüber muslimischen Migranten wesentlich zu prägen. Diese geraten in ein Vakuum, das in Europa weithin empfunden wird. Sie „kommen“ auch nicht nur einfach; sie bringen auch noch ihre Religion mit, eine Religiosität, wie sie in Europa weithin verloren gegangen ist. Vor diesem Hintergrund ist die Begegnung zwischen nicht-muslimischer Mehrheit und muslimischer Minderheit ipso facto durch eine Art von Unterlegenheitsgefühl geprägt. Wir fühlen uns einer Begegnung bzw. einem Dialog mit Menschen nicht gewachsen, die offen die Religion ins Zentrum ihres persönlichen Lebens bzw. des gesellschaftlichen Raumes stellen.

Bezeichnend scheinen mir diesbezüglich hiesige Diskussionen, was man denn mit leerstehenden Kirchen machen könne. Sie sollen umfunktioniert werden zu Räumlichkeiten, die Unternehmen oder Büros Raum geben. Als eher beschämend wird die Idee angesehen, diese leeren Kirchen an muslimische Gemeinden zur religiösen Nutzung zu geben. Dass das Christentum Raum macht und der Islam diesen füllt, erscheint irgendwie als Niederlage. Die hinter dieser Haltung sichtbar werdende ablehnende Wahrnehmung müssen wir selbstkritisch einräumen. Die skeptische bis negative Grundeinstellung scheint durch die fast täglichen aktuellen Meldungen über Gewalttätigkeit im Namen des Islam an vielen Plätzen dieser Erde bestätigt zu werden.

Bevor wir auf einige Einzelphänomene eingehen, die sich in diesem Kontext ergeben, sei die Frage gestellt: Wie lesen wir die Gegenwart? Wie stellen wir uns den negativen Wahrnehmungen, die sich mit dem Thema Islam und muslimischen Migranten verbinden? Bei der Feststellung von Verlusten allein, aus denen Verunsicherung und Gefühle der Ablehnung resultieren, kann man es nicht belassen. Wie vermitteln wir eine positive Perspektive mit Blick auf die Begegnung von Islam und Christentum, von muslimischer Minderheit und nicht-muslimischer Mehrheit in unseren Gesellschaften? Da mag uns ein Blick auf die Geschichte der Beziehungen zwischen der islamischen Welt auf der einen und Europa auf der anderen Seite einen ersten Hinweis geben. Er mag uns helfen, uns von kurzfristigen Konjunkturen nicht allzu sehr beeindrucken zu lassen. Insbesondere davon nicht, dass eine verschwindend kleine Zahl von Menschen im Kontext der islamischen Welt die Religion zur Rechtfertigung von Gewalt einsetzt, sei es in der islamischen Welt selbst oder hier in Europa. Er mag uns auch erleichtern, Gemeinsamkeiten zu finden, die es ja wird geben müssen, um darauf die Zukunft unserer Begegnung aufzubauen. Tatsächlich gibt es zu Gemeinsamkeit keinerlei Alternative. Worin aber liegen die konstitutiven Elemente der Geschichte mit Blick auf Gemeinsamkeit und Koexistenz?

Der Blick auf die Geschichte macht deutlich, dass die islamische Welt und Europa aufs engste aufeinander bezogen sind. Sie sind wie zwei kommunizierende Gefäße, seit sich Europa unter den Karolingern auszubilden begann, unwesentlich später, nachdem sich mit dem Tode des Propheten Mohammed im 7. Jahrhundert die Grundlagen einer „islamischen Welt“ herausgebildet hatten. Abbasiden und Karolinger - Karl der Große und Harun al-Rashid sind Bezugsgrößen dieser wechselseitigen Begegnung. Beide, Europa und die islamische Welt, entstanden auf den Trümmern der Antike.
Im Jahre 2003 ist eine schöne Ausstellung über einen denkwürdigen Austausch von Geschenken und Noten zwischen Karl dem Großen und Harun al-Rashid um das Jahr 800 herum gezeigt worden. So geht noch immer jener Elefant durch die Gemüter, den Harun al-Rashid Karl dem Großen verehrt haben soll. Beiden Seiten, Europa und der islamischen Welt, hat das antike Kulturgut entschiedene und entscheidende Entwicklungsimpulse gegeben. Zwar hat die Ausbreitung des Islam das mare nostrum zerstört, aber die beiden nun entstehenden politischen und kulturellen Tatbestände, Europa und seine islamische Nachbarschaft, durch die Geschichte zu permanenter Interaktion gebracht. Die Ausbreitung des Osmanischen Reiches in den Balkan schließlich lässt zwar noch einmal ein Gefühl des Bedrohtseins aufkommen, zugleich aber werden die Muslime auf der Iberischen Halbinsel unter Druck gesetzt und 1492 definitiv vertrieben. Es bleibt bei zwei Entitäten: die islamische Welt und Europa, die in einer kontinuierlichen, unendlich vielfältigen, feind- wie freundseligen Auseinandersetzung stehen.

Mit dem Entstehen islamischer Gemeinschaften in Europa ist ein neues Kapitel in den Beziehungen zwischen Europäern und Muslimen aufgeschlagen. Die Migration von Muslimen nach Europa ist ein junges Phänomen, als Massenerscheinung nicht mehr als 30 oder 40 Jahre alt. Die Auseinandersetzung mit dem Islam findet seither in unseren Gesellschaften statt. Das bedeutet für Europa eine neue Erfahrung. Waren die Europäer seit langem bestrebt, ihre eigene Religion aus dem politischen und gesellschaftlichen Leben herauszuhalten, so war man noch weniger geneigt, sich mit einer Religion auseinander zu setzen (dem Islam nämlich), die viele in Europa bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts totgesagt hatten. Wir im Westen werden zu einer Auseinandersetzung mit dem Islam genötigt, nachdem der Westen über die vergangenen 250 Jahre die islamische Welt ihrerseits zu einer Auseinandersetzung mit ihm und seinen Werten, die als „Moderne“ ausgegeben wurden und werden, genötigt hatte. So stehen wir damit vor der Herausforderung, von einer Belehrungskultur, über die zu verfügen wir uns gewöhnt haben, zu einer Lernkultur zu finden. Und dies scheint uns Schwierigkeiten zu bereiten. Am Anfang schien das Phänomen vorübergehend: Die Annahme lautete, dass die „Gastarbeiter“ wieder zurückkehren würden. Nun stellt sich seit etwa anderthalb Jahrzehnten heraus, dass diese muslimischen Gastarbeiter zu Migranten geworden sind. Die Tatsache, dass sie in unsere Gesellschaften „hineingewandert“ sind, macht die Frage dringlich, wie sich nunmehr die Auseinandersetzung vollzieht, welchen Platz Migranten in unseren Gesellschaften einnehmen werden. Erschwert wird diese Begegnung durch den Umstand, dass die Masse der Migranten in den letzten vier Jahrzehnten nicht muslimischen Eliten entstammten, sondern eher breiteren Unterschichten angehörten. So hat diese Auseinandersetzung zwischen Muslimen und den Werten der westlichen Gesellschaften über die religiöse bzw. kulturelle Dimension hinaus, in hohem Maße auch eine soziale und – wie wir feststellen – mithin auch potentiell konflikthafte Dimension.

Nach dem 11. September 2001 hat die Auseinandersetzung um die Frage des Verhältnisses von Islam und Moderne bzw. Islam und den Grundlagen westlicher Gesellschaften weitere Dringlichkeit erfahren. Durch den Gewaltakt von Terroristen im Namen des Islam sind Missverständnisse, ja Entfremdungen entstanden, die unübersehbar in Teilen der islamischen Welt, aber auch unter Muslimen in Europa zu einer erhöhten Bereitschaft zu Gewaltanwendung geführt haben. Bereits in der Vergangenheit hat es Vorfälle gegeben, die erkennen ließen, dass die grundlegenden Wertmaßstäbe in modernen westlichen Gesellschaften und einer islamischen Welt, in der eine Rückkehr der Religion in den gesellschaftlichen Raum zu bemerken ist, differieren. Zu verweisen wäre etwa auf die Auseinandersetzung über Salman Rushdies „Satanische Verse“: Hier stand das Prinzip der künstlerischen Freiheit dem Vorwurf der Blasphemie gegenüber. Unter diesem Vorzeichen ist auch der Mord an dem niederländischen Filmemacher Theo van Gogh diskutiert worden. Diese teilweise emotionale Diskussion ist durch den Disput über die Karikaturen des Propheten Mohammed in einer dänischen Zeitung fortgesetzt worden. Wie stellen wir uns darauf ein, dass Migranten aus der islamischen Welt einen Kodex von Werten mitbringen, der dem unserer Gesellschaft zugrunde liegenden nicht entspricht? Mit Nachdruck ist zunächst einmal jede Anwendung von Gewalt in der Auseinandersetzung um derartige Differenzen zurückzuweisen. Und ebenso muss mit Nachdruck darauf bestanden werden, dass die Essenz von in Europa nach zum Teil jahrhundertelangen Auseinandersetzungen errungenen Werten unaufgebbar ist. Wo liegt aber der Kompromiss mit begründeten Sensibilitäten von Muslimen?

Mir scheint, dass der niederländische Ministerpräsident Jan Peter Balkenende im Zusammenhang mit der Ermordung Theo van Goghs am 2. November 2004 etwas Bemerkenswertes im Sinne eines Brückenschlages gesagt hat, als er forderte: "Wir brauchen einen Kompromiss von Freiheit und Verantwortung". Wo liegt der Kompromiss zwischen der Freiheit zum Beispiel des künstlerischen Ausdrucks und der Redefreiheit auf der einen und der Verantwortung in einer Gesellschaft auf der anderen Seite, in der es zahlreiche Menschen gibt, die sich im Kontext ihrer Religion und Kultur durch die Freiheit des Wortes berührt fühlen, wenn dieses zentrale Inhalte ihrer Religion und ihres Glaubens verletzt? Selbst ein dem Westen so offener Mann wie der türkische Schriftsteller und Menschenrechtsaktivist Orhan Pamuk spürt einen Anklang dieses Dilemmas. Anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des deutschen Buchhandels hat er im Oktober 2005 in der Frankfurter Paulskirche gesagt: "Wenn Journalisten das äußerst beliebte Ost-West-Thema anschneiden, fällt mir meist ein, was in Teilen der westlichen Presse unter diesem Begriff verstanden wird, und dann würde ich über dieses Problem am liebsten gar nichts sagen. Oft wird unter dem Ost-West-Problem nichts anderes aufgefasst als die Tatsache, dass die armen Länder im Osten sich nicht allen Anforderungen des Westens und der Vereinigten Staaten beugen wollen. Dieser Standpunkt verrät, dass die Kultur, das Leben und die Politik jener Gefilde, aus denen auch ich komme, nur als lästiges Problem angesehen werden. Und von Schriftstellern wie mir wird sogar eine Lösung für dieses Problem erwartet. Dazu muss festgestellt werden, dass der herablassende Stil, in dem dergleichen formuliert wird, Teil des Problems ist." Im Anschluss daran geht Orhan Pamuk auf die einseitige Verwestlichung der Türkei durch den Kemalismus ein, die seit Jahrzehnten anhält, und fährt fort: "Europäisierung bedeutet naturgemäß auch, dass man sich mit gewissen Eigenheiten seines Landes und seiner Kultur kritisch auseinander setzt, ja dass man diese falsch und wertlos findet, wenn man es auch nicht so drastisch formulieren würde wie jemand aus dem Westen. Wie ich aus der Reaktion auf meine Romane sowie aus meiner persönlichen Erfahrung weiß, lösen solche Bemerkungen ein tiefes und vielschichtiges Gefühl aus, nämlich das der Scham. Die Probleme zwischen dem Osten und dem Westen, oder wie ich es lieber bezeichne, zwischen der Tradition und der Moderne, zwischen meinem Land und Europa, haben immer auch mit einem nie ganz zu tilgendem Schamgefühl zu tun. Ich versuche, dieses Gefühl stets im Zusammenhang mit seinem Gegenbegriff zu sehen, nämlich dem Stolz. Wo jemand allzu stolz und selbstgewiss auftritt, steht bekanntlich oft ein anderer im Schatten von Scham und Erniedrigung. Und wer sich erniedrigt vorkommt, bei dem macht sich gerne Stolz im Nationalismus bemerkbar. Diese Art von Scham, Stolz, Erniedrigung und Wut ist das Material, aus dem ich meine Romane forme." Dies schreibt ein türkischer Intellektueller, ein Mann, der im Westen mit Preisen überhäuft wird. Tatsächlich kann man sich manchmal des Gefühls nicht erwehren, das der Westen gar nicht weiß, was er den Menschen mit seinen Auszeichnungen antut, wie sehr er sie mit seinen Auszeichnungen auch zu verbiegen sucht, da sie eigentlich auch noch etwas anderes über eben jenen Westen zu sagen hätten, nämlich etwas sehr Kritisches, was man im Westen aber nicht hören will.

Was hier sich bei dem Intellektuellen in der Frankfurter Paulskirche als verhaltene Kritik artikuliert, das nimmt auf einer anderen, sehr politisierten Ebene im Extrem die Gestalt von Gewalt bis hin zu Mord und Terror an. Es kommt wohl nicht von ungefähr, dass weithin in der islamischen Welt ein so hohes Maß an Gewalthaftigkeit, vor allem im Nahen und Mittleren Osten gegeben ist. Von der Auseinandersetzung zwischen den Israelis und den Palästinensern bis zur dschihadistisch verpackten Gewalt gegen Menschen jedweder Couleur ziehen sich die Empfindungen von Scham und Wut als roter Faden hindurch. Die Art und Weise, in welcher der Westen seine politische, wirtschaftliche aber auch militärische Dominanz unverhüllt zum Ausdruck bringt, die Erniedrigung von Gesellschaften in der islamischen Welt, die in Stätten wie Abu Ghraib und Guantanamo ihren abscheulichen Exzess finden, lassen „den Westen“ als Problem und Herausforderung erscheinen. Die Gewalt nahezu eines jeden gegen jeden im Irak ist eine perverse Eskalation dieses Verlusts an Orientierung. Mit Gewaltakten in Madrid (April 2004) und London (Juli 2005) sind die Ausläufer dieser Welle von Gewalt zu uns herübergekommen.

Es ist wichtig, dass wir hinsichtlich der Motive und Erscheinungsformen von gewalthaftem Handeln, das aus dem Islam gerechtfertigt wird, differenzieren. Der Gewaltakt von Madrid ist „konventionell“ zu verstehen. Zum Zeitpunkt, da er geschah, hatte Spanien noch Truppen im Irak; mithin lässt sich der Anschlag auf die Vorortszüge gleichsam als Ableger der allgemeinen Gewalt gegen die Besatzungsmacht im Irak deuten. Amsterdam und London haben demgegenüber einen anderen Charakter, und es fällt nicht ganz leicht, deren Motive zu verstehen. Der Mörder Theo van Goghs entstammt einer Familie, die aus Marokko in die Niederlande migriert war, und war seinerseits bereits niederländisch sozialisiert. Auch die pakistanisch stämmigen Täter von London waren zur Mehrheit in Großbritannien geboren und erzogen. Die Motivation für ihre Tat war nicht die Berufung auf einen traditionellen Islam – im Gegenteil: Für sie galt es als ersten Schritt gleichsam herauszutreten aus dem Kontext eines traditionellen Islam, herauszutreten aus der eigenen Gemeinschaft, aus ihrer Familie, aus dem Freundeskreis – kurz aus allem, was Tradition und traditionelles Leben eines islamischen Umfeldes ausmachen. Sie treten ein in den Raum eines quasi virtuellen Islam, den sie auf ihre Weise auslegen und über den sie sich in den Kontext einer fiktiven globalen islamischen Gemeinschaft, umma, stellen. Der Islam wird ideologisiert; er ist der Bezugsrahmen einer erfundenen Solidarität. Diese Ideologisierung ist die Antwort des Täters auf eine als Herausforderung begriffene Gesellschaft, innerhalb derer der Täter nicht mehr seinen Platz hatte.

Aus den Attentaten in Amsterdam und London sind weitreichende Schlüsse gezogen worden – insbesondere wurde behauptet, derartige Gewaltakte signalisierten das Ende und das Scheitern der Integration. Vor dem Hintergrund des vorstehend Ausgeführten kann diese Einschätzung nicht bestätigt werden, sind doch die Täter herausgetreten, nicht nur aus der sie umgebenden fremden (niederländischen bzw. britischen) Gesellschaft, sondern auch aus ihrem eigenen traditionellen kulturellen bzw. religiösen Kontext. Nicht die Mehrheit der marokkanisch bzw. pakistanisch stämmigen Gesellschaft wird gewalttätig. Mögen auch Elemente der Fremdheit und des Andersseins die Beziehungen zu ihrem niederländischen bzw. britischen Umfeld bestimmen; so verbietet ihnen doch die traditionelle Auslegung des Islam Gewaltanwendung. Mögen sich auch Schwierigkeiten bei der „Integration“ ergeben; so ist der Ausstieg aus dem gesellschaftlichen Umfeld, also eine bewusste Nicht-Integration, nicht die Lösung des Problems. Zum Zusammenleben, wie schwierig es sich immer gestalten mag, gibt es keine Alternative. Die Gewalttäter bleiben Einzelerscheinungen; nur in ihrer Fiktion oder Vision besteht die umma. In der Radikalität dieses Schrittes mögen sich durchaus Parallelen zu Usama bin Ladin und seiner gewalthaften Anhängerschaft ergeben. Auch bei ihnen handelt es sich um einen Ausstieg aus dem Kontext des traditionellen Islam und die Schaffung einer Fiktion, die ihnen das Töten erlaubt; auch sie sind im herkömmlichen Sinne keine Muslime mehr. Die Gewalthaftigkeit liegt also nicht in der islamischen Religion, wie sie von einer überwältigenden Mehrheit von Muslimen gelebt und praktiziert wird. Zu Tätern werden jene, die sich die Religion zu einer Ideologie umformen, die sich aus Versatzstücken der Religion zusammensetzt und die sie zur Agenda des Verbrechens machen. Die Attentate von London und der Mord an Theo van Gogh signalisieren mithin nicht das Ende der Integration – dies ebenso wenig wie der Terror im Irak oder anderswo in der islamischen Welt das Ende der konstruktiven Auseinandersetzung und der wechselseitigen Kommunikation zwischen der islamischen Welt und dem Westen darstellt; jener Auseinandersetzung also, die so bezeichnend war und ist zwischen der islamischen Welt und Europa über die Jahrhunderte.

Ein unbefangener Blick auf die Stellung der muslimischen Gemeinschaften in europäischen Gesellschaften zeigt, wie vieles doch mit Blick auf Zusammenleben, ja Integration, in Bewegung gekommen ist. Jenseits der spektakulären Gewalttaten, die im Gesamtzusammenhang gesehen Einzelfälle bleiben (die Unruhen in den französischen Vorstädten haben mit der Religion nur am Rande zu tun), lässt sich manches Positive und Konstruktive konstatieren. Innerhalb der europäischen Gesellschaften ist die Begegnung zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, nicht-muslimischer Mehrheit und muslimischer Minderheit, deutlich besser verlaufen, als es die Schlagzeilen über die Gewalttaten suggerieren. In keiner europäischen Gesellschaft, nicht in Österreich oder Deutschland, in Frankreich oder England, haben es Extremisten vermocht, signifikante Teile der muslimischen Gemeinschaften hinter sich zu bringen.

An dieser Stelle ist das Stichwort des "Euro-Islam" einzubringen. Dieser Begriff wird von vielen Muslimen nicht geschätzt; tatsächlich handelt es sich um ein schwammiges Konzept. Doch lässt sich ein Islam erkennen, der in dem Sinne als europäisch bezeichnet werden kann, in dem der Islam in Indonesien indonesisch, in Indien indisch, in Saudi-Arabien saudisch, in Iran iranisch (schiitisch) ist. Der Islam in der Türkei ist nachhaltig von der durch den Staatsgründer verordneten Trennung von Religion und Staat und Gesellschaft, die nunmehr bereits seit 80 Jahren Bestand hat, geprägt. Wenn der „Euro-Islam“ bei Muslimen auf Skepsis oder Ablehnung stößt, dann deshalb, weil der Begriff zu suggerieren scheint, hier werde eine eigenständige Form des Islam, eine neue theologische Substanz, herbeigeredet. Aber nicht darum geht es, sondern angesprochen wird damit vor allem die Lebensweise von Muslimen in europäischen Gesellschaften. Diese Lebensweise, die auf der einen Seite aus dem islamischen Glauben erwächst und in ihm wurzelt, wird eingepasst in die Parameter und Koordinaten einer westlichen Gesellschaft und ihrer grundlegenden Wertvorstellungen. Allein das Stichwort des "Euro-Islam" zeigt, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen von der Masse der Muslime, egal wo sie leben, im Prinzip akzeptiert werden. Österreich vermag offenbar ein besonders gelungenes Fallbeispiel eines im großen und ganzen konfliktfreien Zusammenlebens zu bieten. Das Stichwort des „Euro-Islam“ zeigt zugleich an, dass wir uns in einem Prozess befinden, der auf eine abnehmende Fremdbestimmung von Muslimen in europäischen Gesellschaften von Seiten des Islam der Heimatländer, wie stark deren Kräfte noch immer sein mögen, befinden. Die muslimischen Migranten waren naturgemäß zunächst Teil der islamischen Welt, jener Kontexte, die die Herkunftsländer, die Türkei, Nordafrika oder Pakistan konstituierten. Dabei machte sich auch hier der bereits erwähnte Tatbestand bemerkbar, dass zur Masse nicht Angehörige der Eliten in ihren jeweiligen Heimatländern die Migration antraten. Nunmehr entsteht auch hier in Europa eine muslimische Gemeinschaft, die in den Status der Eliten hineinreicht. Dies hat auch Auswirkungen auf die Theologie: einzelne muslimische Persönlichkeiten interpretieren die Trends des Islam neu im Kontext der gesellschaftlichen und wertemäßigen Rahmenbedingungen der Gesellschaften Europas. Es kommt hinzu, dass sie dies in der Landessprache, in Österreich oder Deutschland mithin in deutscher Sprache tun. Hier ist ein Ablösungsprozess eingeleitet; ein weiterer wichtiger Schritt in Richtung auf Integration.

Natürlich bestehen weiterhin Missverständnisse; auch sind Rückfragen nötig. Dies bezieht sich u.a. auf die „islamische Charta“, die der Zentralrat der Muslime in Deutschland im Jahre 2002 vorgelegt hat. Gewiss hat zunächst konstatiert werden müssen, dass das Dokument gut gemeint und ein positiver Schritt in Richtung auf eine Diskussion wesentlicher Grundfragen im Verhältnis der muslimischen Gemeinschaft zur nicht muslimischen Mehrheit ist. Die Muslime bekunden ihre grundsätzliche Akzeptanz der Verfassung und der essentiellen politischen und gesellschaftlichen Institutionen. Gleichwohl sind Rückfragen notwendig, denn Mehrdeutigkeiten bestehen fort. Dies zum Beispiel, wenn es in der „Charta“ heißt: Es besteht kein Widerspruch zwischen der islamischen Lehre und dem Kernbestand der Menschenrechte. Da wüsste man doch schon einmal gern, was der „Kernbestand der Menschenrechte“ ist und wo der Unterschied zwischen der Akzeptanz eben dieses „Kernbestands“ und der umfassenden Geltung der Menschenrechte liegt. Ähnliche Zweideutigkeiten sind gegeben, wenn es um die freie Religionsausübung bzw. das Recht auf Wechsel der Religion geht. Aber immerhin, ein Gesprächsangebot liegt vor. Andererseits ist es ein Indiz dafür, dass die Ablösung von jenem Verständnis des Islam, das die Migranten aus ihren Gemeinschaften in der islamischen Welt außerhalb Europas mitgebracht haben, noch nicht voll stattgefunden hat. Aber dieser „Ablösungsprozess“ muss auch als Teil der Auseinandersetzung zwischen der islamischen Religion und einer vom Westen bestimmten Moderne insgesamt gewertet werden. Auf Namen wie Mohammed Khatami oder Abdul Karim Sorush wurde bereits hingewiesen: Beide suchen einen islamischen Weg in die Moderne; aber mit Nachdruck weisen sie immer wieder darauf hin, dass es nicht angeht, sich dieser westlichen Moderne einfach zu unterwerfen. Und so werden sich auch Muslime in unseren Gesellschaften und den Ordnungsvorstellungen, auf denen diese beruhen, nicht einfach unterwerfen. Sie sind auf dem Wege, eine Modalität der Koexistenz zu suchen, die es gestattet, als dem Wesenskern des Islam verbundene Gläubige oder zugleich als Bürger in europäischen Gesellschaften zu leben.

In der Auseinandersetzung um die Frage, ob dies denn wirklich möglich oder nicht vielmehr die Quadratur des Kreises sei, wird von nicht-muslimischer Seite immer wieder auf das islamische Recht, die Sharia, hingewiesen. Dieser Begriff wird manchmal geradezu als Totschlag-Wort genutzt. Zum unaufgebbaren Ritual von Talkshows gehören Teilnehmer, die ausführen, dass die Sharia, der ein gläubiger Muslim anhängen müsse, grundsätzlich unvereinbar mit den grundlegenden Wertvorstellungen sei, auf denen Gesellschaften in Europa beruhen. Dass durch die Sharia die Frau unterdrückt werde, mithin also die Anerkennung der Gleichheit von Frau und Mann durch einen Muslim unmöglich sei, gehört zum Repertoire der „Beweisführung“. Zum Kronzeugen werden dann in der Regel konservative Außenseiter sei es in der islamischen Welt selbst oder gelegentlich auch an europäischen Moscheen, die durch eine extrem traditionalistische Auslegung des Islam geradezu intendieren, die Kluft zwischen dem Islam dem Westen aufzureißen. Bereits ein flüchtiger Blick auf die islamische Welt beweist, dass es durchaus nicht schwache Strömungen gibt, die eine „Kontaminierung“ der islamischen Gemeinschaft durch westliche Werte fürchten und in der „Reinheit“ des Islam (wie sie ihn verstehen) die Voraussetzung nicht nur für dessen Überleben, sondern auch einer glorreichen Zukunft (was immer sie damit meinen mögen) sehen. Derartige „Fatwas“ - in negativem Ruf weithin im Westen stehend, seit Ayatollah Khomeini mit seiner „Fatwa“ den Schriftsteller Salman Rushdie mit dem Tode bedrohte - sind zentrale Elemente der „Beweisführung“. Mit dem Rückenwind durch mediale Berichterstattung und vor dem Hintergrund einer eher skeptischen Wahrnehmung des Islam durch eine breite Öffentlichkeit verdüstert sich dann dessen Erscheinungsbild in „mittelalterlicher“ Dimension. Der sorgfältige Spagat zwischen Freiheit und Verantwortung, wie ihn der niederländische Ministerpräsident einfordert, bleibt auf der Strecke.
Natürlich wird kein gläubiger Muslim bereit sein, die Geltung des islamischen Rechts, der Sharia, in Frage zu stellen. Nur – was ist Sharia? Nadeem A. Elyas, dem langjährigen Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland, ist zuzustimmen, wenn er feststellt, unter Sharia verstehe doch eigentlich jeder etwas anderes; man müsse immer wieder von Fall zu Fall ermitteln, was davon in welchem Kontext übertragbar und anwendbar ist. Tatsächlich ist die Sharia als Rechtsbestand nirgendwo abschließend kodifiziert; es ist Juristen-Recht und wird durch den idschtihad, die immer neue Bemühung um Auslegung und Anpassung des Rechts an wandelnde Zustände, erneuert.

Stellen wir die prozesshafte Dimension von Wandel und Anpassung (ohne Aufgabe des theologisch Essentiellen) in den Mittelpunkt der Frage nach der Zukunft der muslimischen Gemeinschaften in Europa und berücksichtigen wir dabei die besonderen Schwierigkeiten der Begegnung innerhalb unserer Gesellschaften am Beginn des 21. Jahrhunderts, so lässt sich zusammenfassen: Der Islam als Religion und gesellschaftlicher Bezugsrahmen bewegt sich durchaus auf europäische Werte zu. Die Konturen eines Euro-Islam, der eine deutliche Eigenständigkeit unter den Erscheinungsformen des Islam hätte, sind allenfalls in Andeutungen erkennbar; aber eine europäische Lebensweise der Muslime lässt sich durchaus konstatieren. Was an Gewalthaftigkeit geschieht, ist nicht „der Islam“, sondern muss von Fall zu Fall im Hinblick auf Hintergründe, Ziele und Erscheinungsformen geprüft werden. Erscheinungen wie gewalthafte Unruhen in den Vorstädten müssen sehr sorgfältig dahingehend untersucht werden, inwieweit sie einen weitgehenden Ausstieg aus der z.B. französischen Gesellschaft darstellen bzw. wie weit die Gewalt tatsächlich eine islamische Konnotation hat oder wie weit die Gewalt eben in jene Grauzone gehört, die von Verunsicherung, Schamgefühlen und Frustrationen gekennzeichnet ist, die ihre Ursachen in Fehlentwicklungen einer Gesellschaftspolitik in Frankreich haben, im Fehlverhalten einer Gesellschaft also, die sich nicht hinreichend der spezifischen Bedürfnisse von Jugendlichen in den Banlieus angenommen hat. Damit ist auch eine Herausforderung an die politischen und gesellschaftlichen Eliten in anderen Teilen Europas gegeben, in denen sich durch die starke Einwanderung von Migranten aus der islamischen Welt neuartige Herausforderungen ergeben haben, an die wir noch vor zwanzig Jahren nicht zu denken brauchten.

Damit ist eine grundsätzliche Haltung auf Seiten der nicht-muslimischen Mehrheit angefragt: Offenheit! Den Medien fällt hierbei eine besondere Rolle zu. Und die Verantwortlichen dort sollten sich fragen, ob sie diesbezüglich hinreichende Sorgfalt walten lassen. In zu vielen Fällen wird Negatives und Gewalthaftes berichtet, Ängste Schürendes, die das Gegenteil von Offenheit bewirken – die Mehrheitsgesellschaft sieht sich in ihren Vorurteilen und Klischees bestätigt und sucht zwischen sich und „den Anderen“ eine Mauer zu errichten. Dabei ist klar, dass die Migration und mithin Multikulturalität, die in Multireligiosität wurzelt, eine Tatsache ist; zu ihr gibt es keine Alternative. Wer am Ende die Migration bejaht, muss auch ja sagen zu Veränderung und Anpassung. Das bedeutet auch ein Zugehen auf die Migranten – ohne freilich das Wertesystem zu relativieren, das der Verfassung zugrunde liegt. Eine solche Haltung wird ihre Wirkung unter muslimischen Migranten in der Weise haben, ihren Platz als Muslime in einer Gesellschaft zu suchen, die jeder Religionsgemeinschaft die freie Ausübung der Religion gewährleistet. Damit rückt etwas Entscheidendes ins Blickfeld: die Verfassung. Sie regelt das Zusammenleben von Nicht-Muslimen und Muslimen; sie muss akzeptiert werden. Dass dieses eine prozesshafte Dimension beinhaltet, wurde angedeutet. Schließlich ist auch uns Europäern, insbesondere auch in Österreich und Deutschland, demokratische Verfasstheit nicht in die Wiege gelegt worden; auch wir haben einen Prozess des Lernens mit Blick auf offene Gesellschaften und Akzeptanz von Minderheiten durchmessen. Es ist noch gar nicht so lange her, dass wir uns zu jenen Wertvorstellungen bekannt haben, die jetzt auch die Chance und die Möglichkeit eröffnen, nicht nur selbst in Freiheit zu leben, sondern auch die Rechte von Minderheiten insbesondere in Sachen der Freiheit der Religionsausübung zu vertreten.

In diesem Sinne sei ein abschließender Blick auf das vieldiskutierte Thema der Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union mit der Perspektive einer Mitgliedschaft des Landes geworfen. Die Art und Weise, wie es angegangen und diskutiert wird, ist geeignet, deutlich zu machen, wie offen wir sind, wie offen Europa ist, sich mit seiner muslimischen Nachbarschaft frei von Vorurteilen und geleitet durch sachliche Argumente und Tatbestände auseinanderzusetzen. Oder werden wir uns abgrenzen? Sollte dies unsere künftige Strategie sein, dann werden wir uns auch gegenüber den Migranten aus der muslimischen Nachbarschaft abgrenzen. Muslime in unseren Gesellschaften spüren dies; und deswegen ist die überwältigende Mehrheit unter ihnen, z.B. in Österreich und Deutschland, dafür, dass der Türkei die Perspektive auf eine Mitgliedschaft in der Europäischen Union erhalten bleibt, so es die sachlichen Rahmenbedingungen erlauben.

Zurück kommend zum Beginn stelle ich noch einmal fest: Europa und die islamische Welt - mit allen Unterschieden in sich selbst – sind distinkte historische und aktuell politische Existenzformen. Zwei Welten, die aber zugleich aus einem breiten Strom von Gemeinsamkeiten schöpfen. Die Geschichte, trotz all’ dessen, was sie an Kämpfen, Kriegen und Konflikten beinhaltet, hat nie aufgehört, die Summe einer offenen Begegnung zu sein. In der Gegenwart hat diese Begegnung in der Migration neue Formen angenommen. Die Gewalttaten im Nahen Osten, aber auch in Europa - stichwortartig festgemacht an Madrid, Amsterdam und London – entstammen nicht „dem Islam“, sind nicht signifikant für die Zukunft der Begegnung im Sinne der Integration der Migranten in europäischen Gesellschaften. Der Terrorismus, der uns Angst macht, in seinen unterschiedlichen Varianten und Begründungen, ist nicht die Antwort der Muslime auf die Modernisierung. Seinen Ursachen, sei es in der islamischen Welt oder an den Orten des Schreckens in Europa, ist differenziert nachzugehen.

Angesichts der Perspektive einer offenen Begegnung und neuer Formen des Zusammenlebens ist „Toleranz“ nicht genug; es reicht nicht, dass wir Muslime gleichsam ertragen, dass wir es ertragen, dass sie unter uns sind. Darum kann es nunmehr nicht länger gehen, sondern es ist mehr verlangt mit Blick darauf, dass die Zukunft gerade erst begonnen hat: Integration im Sinne eines gleichberechtigten Zusammenlebens mit gleichen Chancen der Teilhabe in allen Gebieten von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Integration als Zusammenleben in einem allen Bürgern gesetzten Rahmen, eine Teilhabe am institutionellen Regelwerk, das jedem gleiche Rechte gibt, die auch einzuklagen sind. Dies ist alles andere als „Multikulti“: Wir müssen vielmehr eine Vielfalt von Identitäten akzeptieren, die in der Verfassung einen gemeinsamen Bezugspunkt haben. Vor dem Hintergrund, dass dieses Europa der Zukunft ein Kontinent ist, für den politische Offenheit und Kommunikationsfähigkeit in einer globalisierten Weltgesellschaft die Voraussetzung einer respektierten Stellung in der Welt ist, bedeutet eine derart multiidentitäre Beschaffenheit eine große Chance.