Islamwissenschaft heute - Politikdeutung im Zentrum der Gesellschaft - April 2008

Veröffentlicht: Sonntag, 29. Juni 2008 15:14

Die große Annemarie Schimmel – doch wer kannte sie schon in einer breiteren Öffentlichkeit, bevor sie im Oktober 1995 den Friedenspreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels erhielt? Eine Islamwissenschaftlerin allzu reinen Wassers, fanden viele Kritiker der Entscheidung. Dies schien sie auch noch durch einen Lapsus zu bestätigen: Als Anfang Mai 1995 bekannt wurde, dass sie die nächste Preisträgerin sein würde, trat sie am Abend in den Tagesthemen des Ersten auf. Von Sabine Christiansen nach ihrer Einschätzung der „Fatwa Ayatollah Khomeinis gegen Salman Rushdie“ gefragt, war sie sichtlich überfordert. Ihr Zögern und ihre ausweichende Antwort waren geeignet, den Eindruck zu erwecken, als hege sie wie immer geartete Sympathien mit dem Verdikt des Ayatollah.1

Dass Frau Schimmel den Preis nach heftiger Kampagne doch erhielt, war die bislang wichtigste Anerkennung der Tatsache, dass der islamwissenschaftliche Beitrag zum „Dialog der Kulturen“ und mithin zur Gestaltung der Beziehungen zwischen der islamischen Welt und dem Westen heute als wichtiger politischer Beitrag zum Frieden gewertet werden kann. Tatsächlich hat kein anderes geisteswissenschaftliches Fach in den letzten zwei Jahrzehnten eine derart tiefgreifende Revolution seines politischen und gesellschaftlichen Stellenwertes durchgemacht wie die Islamwissenschaft (bzw. Orientalistik). In Deutschland geboren im 18. Jahrhundert als Magd der Theologie hat sie bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg – Ausnahmen bestätigen die Regel – als Orchideenfach im Verborgenen geblüht: interessant, aber für das Leben in dieser Welt nicht essentiell. Nicht wenige deutsche Islamwissenschaftler taten das Ihre, um diese Einschätzung zu bestätigen; sie wandten sich bewusst von der Gegenwart der islamischen Welt ab. Sie wollten ihr Bild von der so hohen Kultur der Vergangenheit nicht durch eine ziemlich ernüchternde Gegenwart verdunkeln lassen.

Der Verfasser dieses Beitrags erinnert sich noch, wie unverhohlen die Zunft die Nase rümpfte, als er Anfang der siebziger Jahre begann, an einem Think Tank der Bundesregierung (Stiftung Wissenschaft und Politik) das Nahost-Referat aufzubauen: So etwas tat ein Orientalist nicht, der sich mit höchstem akademischem Prädikat an einem mittelalterlichen arabischen Volksroman versucht hatte.2 Es bedurfte eines Visionärs wie des Institutsdirektors Klaus Ritter3, um nicht nur zu erkennen, dass die islamische Welt Gegenstand eines politischen Think Tank der Regierung werden sollte, sondern dass es bei qualifizierter Befassung mit ihr eines Islamwissenschaftlers bedürfen würde. Demgegenüber waren andere führende Mitarbeiter am Institut so frei, zu bekennen, dass der soeben eingestellte Islamwissenschaftler überflüssig sei und erst dann von Nutzen sein werde, wenn er über die NATO arbeite.

Die Masse der Islamwissenschaftler hatte mit der politischen Wirklichkeit nicht viel zu tun und diese (in Gestalt der Politiker) nicht viel mit den Islamwissenschaftlern. Als ein Geistlicher einen Massenaufstand entfesselte und in Teheran einen Freund des Westens vom Thron stürzte, stand die Politik vor einer von den Weltstrategen nicht erwarteten Herausforderung. Khomeini hat der unpolitischen Annemarie Schimmel vor der Kamera Sabine Christiansens Gewissensbisse bereitet, er hat aber zugleich die Islamwissenschaft zu einer Schlüsseldisziplin für das Verständnis grundlegender, den „Westen“ betreffender Entwicklungen werden lassen. Aber – mancher wird sich noch erinnern – auch längst nicht alle Orientalisten/Islamwissenschaftler wussten, was ein Ayatollah und wer Khomeini war.

In den 28 Jahren seit dem Erfolg der Islamischen Revolution in Iran ist die islamische Religion zu einer Bewegung geworden, die weltweit unmittelbar und mittelbar auf ganz unterschiedliche Weise im politischen und gesellschaftlichen Raum wirksam geworden ist. Der Islam ist gegenwärtig wohl die einzige geistig-politische Kraft, die weltweit Menschen betroffen macht. Unübersehbar haben breiteste Teile von Menschen in der islamisch geprägten Welt ein Problem der Akzeptanz mit Blick auf eine vom „Westen“ und insbesondere der Supermacht USA politisch, wirtschaftlich, kulturell, zivilisatorisch (und militärisch) geprägten Welt.

Über der Wahrnehmung eines Großteils von Öffentlichkeit, Medien und Politik steht seit etwa anderthalb Jahrzehnten das Paradigma vom „clash of civilizations“ d.h. einer auf Konflikt weisenden Grundtönung vor allem der Beziehungen zwischen der islamischen Welt und dem Westen. Der 11. September 2001, der Kampf gegen den Terrorismus und die gewalttätigen Eruptionen seither, die vor allem in Palästina und im Irak (aber auch in Afghanistan) ihre Epizentren haben und deren Auswirkungen zwischen Madrid und Bali zu verzeichnen sind, drohen den „clash of civilizations“ zu einer self-fulfilling prophecy zu machen. Vor diesem Hintergrund kann sich die Islamwissenschaft nicht länger verweigern, in den öffentlichen Raum zu treten. Wo der Islam zur Rechtfertigung oder Mobilisierung von Konflikten bemüht wird, ist der Islamwissenschaftler/Orientalist herausgefordert zu erklären, und das heißt ipso facto zu differenzieren. Im schlimmsten Fall muss er erläutern, warum und mit welcher Zielsetzung im Namen von Religion Menschen getötet werden. Wo es aber Tote gibt, sind in hohem Maße Emotionen freigesetzt; er muss den Grund für diese Emotionen ermitteln. Deshalb läuft der Islamwissenschaftler von Anfang an Gefahr, zwischen die Fronten zu geraten – denn beide Seiten fühlen sich als Opfer: Ein getöteter Amerikaner oder Europäer stärkt die Wahrnehmung, „der Westen“ sei angegriffen. Der Extremist im Irak oder Palästina handelt aus der tiefsitzenden Überzeugung, die islamische Welt ihrerseits sei einmal mehr Opfer westlicher Aggression. Jeder Versuch, zu erklären und zu differenzieren, kann als Bemühung wahrgenommen werden, zu verharmlosen bzw. das Opfer zum Täter und den Täter zum Opfer zu machen.

Die Fragen, die zu stellen sind, sind nicht zuletzt deshalb schwierig, weil die Antworten in den meisten Fällen nur Annäherungen an „Wahrheit“ sein können. Welche Rolle spielt die Religion wirklich – ist sie die treibende Kraft oder wird sie zur Erreichung persönlicher/politischer Ziele instrumentalisiert? In jedem Falle ist die Frage nach dem Wesenskern der islamischen Religion gestellt; aber zugleich gilt es, deutlich zu machen, dass auch der Islam – wie jede andere Religion – in unterschiedlichen gesellschaftlichen und politischen Kontexten unterschiedliche Erscheinungsformen annimmt. Damit richtet sich die Frage auf die Gesellschaft, ihre politische und geistige Verfasstheit. Entscheidend ist auch der internationale Kontext: Wer sind die Akteure; was sind ihre Ziele und ihre Wirkungsweise? Welche Verletzungen sind entstanden und entstehen weiterhin? Am Ende richtet sich der Blick auf jeden einzelnen Täter; darauf, die Tat zu hinterfragen.

Der Blick vom Elfenbeinturm

In seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 6. Oktober 2006 kommt der Soziologie Wolf Lepennies auf diese Art der „Forschung“, die er „Gegnerforschung“ nennt, zu sprechen. Sie müsse es nach Lage der Dinge auch geben: Es wäre selbstmörderisch, auf „Gegnerforschung“ zu verzichten. Notwendig sei es, der Militanz wehrhaft zu begegnen – auch mit den Mitteln der Wissenschaft. Zu einer vertieften Befassung, die das Phänomen von Militanz und Terror, das sich mit einem religiösen Mäntelchen umgibt, an seiner Wurzel zu verstehen, bedürfe es eines komplexeren Ansatzes. Hier reichten kulturelle Zuweisungen nicht nur nicht aus, sondern seien auch Teil des Problems. Wenn wir glaubten, die Ursachen des Terrors einzig in den Kulturideologien fremder Völker finden zu können, seien wir längst Kombattanten im „Krieg der Kulturen“, den die Fundamentalisten herbeibomben wollen. „Die Islamwissenschaft muss sich mit anderen Wissenschaften zusammentun: der Geschichte, den Politik- und Gesellschaftswissenschaften. Immerhin – der Befund bleibt gültig: Heute gewinnt die Orient- oder Islamwissenschaft eine neue Bedeutung. Der Elfenbeinturm reicht in die politische und gesellschaftliche Aktualität: Es gibt Elfenbeimtürme, von denen aus man weit sieht. 4

Dass die im weiteren Sinne auf den „Orient“ gerichteten Wissenschaften objektiv seien, ist spätestens seit der von dem Palästina-stämmigen amerikanischen Literaturwissenschaftler Edward Said in dem Buch „Orientalism“ losgetretenen Debatte in Frage gestellt. Seine Kernthese, dass die westliche Orientalistik ein Bild von der islamischen Welt entworfen habe, das von europäischen kolonialen und imperialen Interessen geleitet gewesen sei – die Wissenschaft als ancilla der Politik – , hat das Selbstverständnis des Faches in den Tiefen erschüttert.5 Auch wenn Said selbst seine These an englisch- und französischsprachiger Literatur festmacht, so haben neuere Untersuchungen auch deutsche Wissenschaftler ausgemacht, deren Arbeitsergebnisse politische Bezüge erkennen lassen.6 Um Saids These ist es im Laufe der Zeit stiller geworden; doch hat sie auch im Zusammenhang mit der Greater Middle East Initiative des amerikanischen Präsidenten George W. Bush, dem expliziten Versuch, die Region des Nahen und Mittleren Ostens – ggf. mit gewalthaftem Nachdruck wie im Irak – nach westlichem Vorbild zu demokratisieren, nichts an Aktualität verloren. Zahlreiche Wissenschaftler haben ihre Expertise hergegeben, zu beweisen, dass derartige Bemühungen legitim, machbar und erfolgreich sein können. Zahlreiche Wissenschaftler haben aber auch klar gemacht, dass dies nach Lage der Dinge eine gefährliche Illusion sei. Kaum ein Thema ist in den letzten Jahren derart prominent hervorgetreten, wie das Thema „Islam und Demokratie“. An der Diskussion waren Islam- wie Politikwissenschaftler (in zahlreichen Fällen sind beide Ansätze in einer Person vereint) beteiligt.

Fragwürdiger „Universalismus“

Die Frage nach der Objektivität der Politikwissenschaft und den ihr zugrunde liegenden Kriterien bei der Beurteilung politischer Tatbestände mit Blick auf den Nahen Osten ist beispielhaft an der Beurteilung der Gestalt eines der Führer des palästinensischen Widerstandes gegen die zionistische Besiedlung Palästinas, des Mufti Hajj Amin al-Husaini, akut geworden. In jüngster Zeit sind ihm mehrere Untersuchungen gewidmet worden.7 Die Arbeit von Klaus Michael Mallmann und Martin Cüppers8 erschließt neues Archivmaterial. Eine der gegenüber früheren Arbeiten schärfer hervortretende Erkenntnis ist, dass die nationalsozialistische Politik im Vorderen Orient stärker als bisher deutlich gemacht auf die Vernichtung des Jishow, des jüdischen Siedlungsraums in Palästina, ausgerichtet gewesen sei. Der seit 1941 in Berlin residierende Mufti, der von der in Europa angelaufenen Vernichtungsaktion gegen die Juden Kenntnis gehabt habe, sei an diesen Aktivitäten als Spiritus rector maßgeblich beteiligt gewesen. In dem aufschlussreichen „Epilog“9 setzen sich die Autoren kritisch mit den einschlägigen Untersuchungen der Geschichts- und Islamwissenschaften auseinander. „Gerade innerhalb der Geschichts- und Islamwissenschaften fand die Nähe zwischen Nationalsozialismus und der arabischen Welt bis in die jüngste Vergangenheit eine eher nur sehr zweifelhafte Beachtung.“10 Von einem Standpunkt, der die Kollaboration des Mufti mit dem nationalsozialistischen Regime bei der mehr oder minder wissenschaftlich belegten Intention zur Vernichtung des Jishow in den Vordergrund rückt und zu einer völlig negativen Bewertung der persönlichen wie politischen Qualitäten des Mufti kommt, erscheint das differenzierte Bild von Geschichts- und Islamwissenschaftlern bestenfalls blauäugig, wenn nicht bewusst schönfärberisch. Diese versuchten, den Mufti im Licht einer gezielten Diffamierungskampagne Englands und Israels als opportunistischen Realpolitiker („Der Feind meines Feindes ist mein Freund“) ja schlicht als Patrioten zu sehen. Den Vorwurf des Eurozentrismus lassen sie nicht gelten; es führe an der Sache vorbei, „in einem derartigen Zusammenhang als faktische Absolution der arabischen Seite den Hinweis auf andersartige kulturelle Umgangsformen einzuführen“. 11 Ein solcher Einwand bedeute nichts anderes, als Individuen und ihr Tun auf diverse eherne Kulturkreise zu reduzieren und damit zu entschuldigen sowie den Subjekten von vornherein faktisch jegliche Reflektion menschlichen Handelns zu verwehren. „Die Kritik an solcherlei leichtfertigen Zuschreibungen gar noch mit dem Vorwurf ‚eurozentrischen’ Denkens zu kontern, kommt einem katastrophalen Denkverbot gleich.“12 Die Autoren reklamieren die Position eines „Universalismus“, „der...für die Formulierung eines Urteils über die Kollaboration von Arabern mit dem nationalsozialistischen Deutschland von unverzichtbarer Bedeutung ist.“ Mit dieser „universalistischen“ Position ziehen sie sich auf einen Punkt zurück, der der zionistischen Bewegung eine nicht mehr zu hinterfragende Rechtfertigung verleiht und ignoriert, dass durch sie die Lebensrechte palästinensischer Araber einseitig in Frage gestellt wurden.

Die Beteiligten der „islamischen Revolution“ in Iran

Der Konflikt zwischen einem Universalismus (der von Mallmann und Cüppers als „abendländisches Denken“ im Gefolge der „Errungenschaften der Aufklärung“ gepriesen wird)13 und einer Sehweise, die tatsächlich kulturelle und religiöse Elemente bei der Erklärung politischer Phänomene in Betracht zieht, ist spätestens mit der Revolution in Iran (1978/79) aufgebrochen. Es war ein (schiitisch) islamischer Geistlicher, der einer verbreiteten Protestbewegung schließlich mit dem Islam entlehnten religiösen Konzepten ihre Durchschlagskraft verlieh, sie zur Revolution eskalieren ließ und beim Sturz der alten Ordnung Regie führte. Nicht viele Orientalisten/Islamwissenschaftler gab es damals (1978/79), die den Namen Khomeini kannten; und nur wenige hatten seine Schrift von der „hukumat-e islami“, der „islamischen Regierung“, der die vilayat-e faqih, die Amtsführung des anerkannten Gottesgelehrten, zugrunde liegen würde, gelesen. Die gegenwartsbezogene Islamwissenschaft war in Deutschland noch wenig entwickelt und nur unzureichend vorbereitet und willens, aktuelle politische Entwicklungen zu kommentieren – schließlich hatte es dazu noch keine wirklich nachhaltigen Anlässe gegeben. Das sollte sich ändern. Die Islamwissenschaft/Orientalistik trat aus einem Schattendasein ins Rampenlicht der Öffentlichkeit. Sie sollte Phänomene erklären, die für die Politik, Medien und Öffentlichkeit irritierend waren. Dabei waren Konflikte programmiert. Der „universalistische“ common sense, in dem sich der „abendländische“, die Aufklärung hochhaltende Bürger eingerichtet hatte, würde mit einer Sehweise in Konflikt geraten, die in dem Geschehen eine Logik sui generis erkennen würde; die rechtfertigen würde, wo aus der Sicht westlicher Interessen, eines westlichen Werteverständnisses, krasse Mittelalterlichkeit und Verletzungen eines modernen Verständnisses von Demokratie und Menschenrechten wahrgenommen würden. Sie würde allerdings zugleich deutlich machen müssen, an welchen Punkten die Erklärung ihre Grenzen haben würde und wo im Namen der Religion Geschehenes und Getanes vom Standpunkt „universaler“ Werte aus nicht mehr akzeptabel sein und Kritik, ja Verurteilung, ausgesprochen werden müsste. Sie würde also konfliktbereit sein müssen – gegenüber der eigenen Gesellschaft ebenso wie gegenüber den Akteuren, die im Namen der islamischen Religion Werte verletzten, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Grundlage des globalen Zusammenlebens geworden waren.

Die Revolution im Iran bedeutete eine dramatische Herausforderung an das Selbstverständnis und die gesellschaftliche Relevanz der Islamwissenschaft/Orientalistik. Angesichts der Gewalthaftigkeit des Geschehens und der großen Zahl der Opfer stellte sich die Frage nach der Rechtfertigung der Revolution als eines Phänomens tiefgreifenden politischen Wandels: Wie stand es um die Legitimität der „Islamischen Republik“ im Lichte der augenfälligen Abweichungen des Systems der vilayat-e faqih von modernen Demokratiestandards? Wie stand es um die Menschenrechte angesichts der Übergriffe und Verfolgungen von Menschen, die die islamischen Grundlagen des Systems nicht akzeptierten? Das Dilemma lag auf der Hand: Würden Werte, deren universale Geltung im Westen gefordert war, uneingeschränkt gelten müssen; oder würde das System eine eigene Legitimation aus ihren reklamierten Wurzeln heraus haben und somit über der Kritik vom Standpunkt westlicher Werte aus stehen? Wie Muhammad Khatami, Staatspräsident Irans von 1997 bis 2005, noch im Jahre 2000 anlässlich der Einweihung des „Denkmals des Dialogs der Kulturen“ im Schlosspark von Weimar feststellte: Er spricht zunächst von der Notwendigkeit der Kritik von Tradition und der Moderne; „wir können uns weder der Tradition, noch der Moderne unterwerfen, aber auch nicht die eine der anderen opfern“. Die Errichtung der Islamischen Republik sieht er im Licht der Lösung des Spannungsverhältnisses von Tradition und Moderne: „Die neue religiös-gesellschaftliche Ordnung wurde im Iran etabliert, um auf die sich immer erneuernden Bedürfnisse und Fragestellungen des heutigen Menschen Antworten zu finden“. Iman Khomeini habe sowohl auf der Erhaltung der Grundlagen der Religion als auch auf der Erhaltung der Rolle des Volkes bestanden. Es gehe um die Etablierung der Volksherrschaft im Einklang mit den traditionellen geistig-religiösen Grundlagen der Gesellschaft bei gleichzeitiger Entwicklung einer modernen Zivilgesellschaft.14

Das Dilemma, das sich der Orientalistik/Islamwissenschaft stellte, lag auf der Hand: Wie das Geschehen erklären, ohne zu rechtfertigen, was vom Standpunkt universaler Werte nicht zu rechtfertigen war? Denn das Geschehen hatte eine eigene, nachvollziehbare Logik: Die Ursprünge der Revolution lagen in dem vom CIA im August 1953 unterstützten Putsch gegen die gewählte säkulare Regierung von Muhammad Musaddegh. Ein direkter Faden ließ sich von dessen Sturz zur Machtübernahme Khomeinis Anfang 1979 erkennen. Ayatollah Khomeini war ein Revolutionär in dem Sinne, dass er eine Massenbewegung gegen eine Ordnung in Gang setzte, die von der Masse der Iraner nicht gewollt war, vom Ausland jedoch im Namen von dessen eigenen Interessen nachhaltig unterstützt wurde. Die Mobilisierung war nicht auf der Grundlage säkularer „linker“ Denk- und Handlungsparadigmen erfolgt, die offensichtlich in Iran eine breite Masse nicht zu erreichen vermochten. Khomeini war es gelungen, Elementen des in Iran tief verwurzelten schiitisch-islamischen Glaubens eine Dynamik zu verleihen, von der sich Millionen von Iranern mitgerissen fühlten. Und von der Islamischen Republik sagte Muhammad Khatami nach sieben Jahren gescheiterter Anläufe, das System in der Weise zu verändern, dass politischer Pluralismus, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte respektiert würden, anlässlich der Feiern zum 25. Jahrestag der Revolution am 11. Februar 2004 (etwa eine Woche vor den Parlamentswahlen, vor denen der Wächterrat etwa 3.000 Kandidaten des Khatami-Lagers aus dem Rennen geworfen hatte): Demokratie in einem islamischen Rahmen sei der beste Kurs für das Land. „Diejenigen, die einem westlichen Stil von Säkularismus folgen, werden nicht nur die Unabhängigkeit, sondern auch die historische Identität der iranischen Nation aufs Spiel setzen. Und diejenigen, die die Demokratie unter dem Deckmantel des Islams untergraben, stellen eine ähnliche Bedrohung dar und riskieren, die junge Generation zu entfremden... Wofür ich immer gestanden habe und fürderhin stehen werde, ist die dritte Option: Demokratie im Rahmenwerk der Religion vereinbar mit unserer Geschichte und Religion“.15 Damit brachte Khatami zum Ausdruck, dass er das Prinzip der vilayat-e faqih als Grundlage des politischen Systems in Iran akzeptiere. Die Islamwissenschaft war zu erklären bemüht, in welcher Weise „der Islam“ in dem Geschehen wirksam war. Das politische Dilemma des Widerspruchs zwischen westlich geprägtem universalen Demokratieparadigma und der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit in Iran hat sie naturgemäß nicht zu lösen vermocht. Dass die noch immer anstehende politische und gesellschaftliche Modernisierung von Teilen der islamischen Welt aber nicht ausschließlich gemäß aus dem Westen entnommenen Blaupausen verlaufen wird, ist eine zentrale Einsicht, die durch die Ergebnisse der Wissenschaft untermauert worden ist. Die Herausforderung der islamischen Welt mit Blick auf Entwicklung und Modernisierung würde darin liegen, universale Standards mit dem Rückgriff auf Kultur und Religion zu einer Synthese zu bringen. Dass dies im „Westen“ akzeptiert wird, ist eine Vorbedingung für die Gestaltung der Beziehungen zur islamischen Welt.

Wohin Versuche führen, westliche Demokratiemodelle tel quel in die islamische Welt zu transplantieren, haben der durch die USA gewaltsam herbeigeführte Sturz des irakischen Diktators Saddam Husain und das Scheitern der amerikanischen (aber auch von der Europäischen Union übernommenen) Greater Middle East Initiative gezeigt. Die Orientalistik/Islamwissenschaft hat sich intensiv an der Diskussion zu Themen wie „Islam und Demokratie“ und „Islam und Menschenrechte“ beteiligt, die auch in der islamischen Welt in den letzten zwei Jahrzehnten nicht zuletzt im Zusammenhang mit den Bemühungen um demokratische Reformen in Iran geführt worden sind. Naturgemäß sind die Ergebnisse kontrovers. Ganz grundsätzlich aber ist deutlich geworden, dass die vorstehend genannten Begriffspaare einander nicht ausschließen. In welcher Weise die Begriffe miteinander kompatibel gemacht werden können, ist Gegenstand zahlreicher islamwissenschaftlicher Arbeiten gewesen.

Der „Dialog der Kulturen“

Die Auflösung des Dilemmas muss im politischen Raum erfolgen. Der Ausweg aus dem Spannungsverhältnis von Universalität der Geltung grundlegender politischer und gesellschaftlicher Werte auf der einen und der Legitimität der Gründung jeweils eigener Ordnungen auf der Grundlage von Tradition, Kultur und Religion auf der anderen Seite lag in dem, was vage und bisweilen missverständlich der „Dialog der Kulturen“ genannt wurde. Nach Lage der Dinge war es kein Zufall, dass dieses Thema mit der Gründung und Konsolidierung der Islamischen Republik an Aktualität gewann. Mit dem Abschluss des irakisch-iranischen Krieges durch den Waffenstillstand vom 20. August 1988 und dem Tod Khomeinis (3. Juni 1989) galt es zu ermitteln, auf welcher Grundlage sich künftig das Zusammenleben „westlicher“ Ordnungen und der Islamischen Republik Iran gestalten würde. Dass Deutschland im Rahmen der Europäischen Union dabei seit 1988 eine Vorreiterrolle annahm, war vor dem Hintergrund der Geschichte der deutsch-iranischen Beziehungen kein Zufall. Symbolisch für diese Qualität der Beziehungen war die Einweihung des Denkmals des Dialogs der Kulturen in Weimar anlässlich des Staatsbesuchs Khatamis in Deutschland im Juli 2000 durch die beiden Staatspräsidenten Muhammad Khatami und Johannes Rau. Auf zwei unbesetzten Sesseln aus Granit wird durch Zitate aus ihren Dichtungen die Gegenwart von Goethe und Hafiz imaginiert. Am Vorabend des Ereignisses hatten die beiden Staatsoberhäupter mit dem Theologen Hans Küng und dem Islamwissenschaftler Josef van Ess über philosophische und theologische Aspekte der Beziehungen zwischen der islamischen Welt und dem Westen „dialogisiert“.16

Der „Dialog der Kulturen“ ist – anders als es der Begriff suggeriert – kein rein kulturelles Ereignis. Er umfasst zwar eine kulturelle Dimension, ist aber in seiner Reichweite politisch zielorientiert und richtet sich auf die Zukunft einer internationalen Ordnung, in der „culture matters“. Deshalb wurden die Menschenrechte in den Mittelpunkt des „Dialogs der Kulturen“ mit Iran gestellt. Die Teilnehmer auf beiden Seiten kamen aus dem akademischen wie aus dem politisch-diplomatischen Raum. Die Gegenwart der Islamwissenschaft war notwendig, um die deutsche („westliche“) Delegation für die Legitimation von Rückfragen aus dem iranischen („islamischen“) Raum zu sensibilisieren; so wie intime Kenner Deutschlands („des Westens“) auf der anderen Seite den iranischen Teilnehmern verdeutlichen mussten, wo die essentiellen Anliegen der deutschen (westlichen) Position lagen. Anliegen wie Anlage dieses „Dialogs der Kulturen“ aber reichten weit über die Kompetenzgebiete von Islamwissenschaft/Orientalistik und West-Kennerschaft/Okzidentalistik hinaus. Das Ergebnis musste ein politisches sein und damit das Selbstverständnis der Akteure, aber auch die Grundlage des globalen Ordnungssystems berühren. So war die Wirkung des Dialogs der Kulturen von Anfang an nur in langfristiger Perspektive zu sehen. War es ein Zufall, dass Mitte der neunziger Jahre eine breite Bewegung in Iran Veränderungen in der demokratischen Verfasstheit und vertiefte Achtung der Menschenrechte einforderte und 1997 Muhammad Khatami an die Macht wählte? Auf deutscher Seite war es Bundespräsident Roman Herzog, der die Logik des „Dialogs der Kulturen“ unter den veränderten Bedingungen des „culture matters“ hervorhob.17

Er hielt auch die Laudatio bei der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Oktober 1995 an die Islamwissenschaftlerin Professor Annemarie Schimmel. Ohne auch nur ein Jota von der Geltung von Werten abzugehen, auf die sich die internationale Gemeinschaft als „global“ geltend verständigt hat (u.a. in der Menschenrechtserklärung der UNO von 1948) stellt Herzog fest, dass die political correctness „keine legitime Schranke der verfassungsrechtlich verbürgten Meinungsfreiheit sein kann.“ Am Beispiel amerikanischer, britischer und russischer Literaturwissenschaftler macht er deutlich, dass die Befassung mit deutscher Literatur und Kultur während der Nazi-Barbarei geeignet war, ein anderes, gültigeres Verständnis der Deutschen zu vermitteln, ohne die Furchtbarkeit des Regimes der Nazis zu relativieren. Die Aufgabe auch der Islamgelehrten sieht er darin, jene Kenntnisse des Islams zu vermitteln, die die Gesellschaft instand setzen, zu differenzieren und die Vielfalt von Religion und Kultur zum Ausdruck zu bringen. Damit habe die Preisträgerin zum Frieden beigetragen und erhalte den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zurecht.18

Roman Herzog und Muhammad Khatami haben bis zum Ende der Amtszeit des Bundespräsidenten einen immer wieder öffentlich gemachten Dialog der Kulturen geführt.19 Der Verfasser dieses Beitrags hatte die Ehre, gemeinsam mit den engsten Mitarbeitern des Bundespräsidenten eine Sequenz von Projekten und Veranstaltungen zu erarbeiten, in der der wissenschaftliche und politische Raum auf westlicher wie muslimischer Seite aufs engste miteinander kommunizieren sollten. Auf der Seite der Wissenschaft würde die Islamwissenschaft/Orientalistik den anderen beteiligten Wissenschaften von der Politik- über die Erziehungs- und Naturwissenschaften bis hin zu den Ingenieurwissenschaften das Feld ebnen, indem sie kenntlich machte, wo deren Stellenwert für eine auch kulturell relevante Dimension an Gemeinsamkeiten mit Vertretern der entsprechenden Disziplinen aus dem islamischen Raum liegen würde. Die am 23. April 1999 verabschiedete „Berliner Erklärung“ sollte Wegweisung für den weiteren Gang der Dinge vermitteln.20 Die Entwicklungen haben dann eine andere Richtung eingeschlagen. Auf die Gründe dafür kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Mit dem 11. September 2001 war schließlich eine Situation entstanden, in der zwar viel von Dialog geredet wurde. Aber nunmehr hatten politische Extremisten das Wort und das Heft des Handelns auf ihrer Seite. Ein christlicher Fundamentalist im Weißen Haus, der sich auszuziehen anschickte, in erklärtermaßen religiöser Dimension dem „Greater Middle East“ das Gute in Form westlich verstandener Demokratie und Freiheit zu bringen; und Extremisten, die sich rüsteten, über „islamische“ Konzepte wie den „dschihad“ Widerstand zu leisten und die islamische Welt von den „Kreuzfahrern“ zu befreien . Der wirkliche Dialog blieb dabei auf der Strecke. Die Wahl von Mahmud Ahmadineschad als Nachfolger Khatamis im Juni 2005 war nur eines – und noch eines der harmloseren – Ergebnisse dieser Entwicklung. Khatami, nach den Gründen befragt, warum der Prozess der Demokratisierung in Iran nicht vorangekommen sei, sieht einen der Gründe in der Politik Washingtons: Beim Kampf gegen die Taleban im Gefolge des 11. September habe Iran doch die Nordallianz in Afghanistan unterstützt und sei somit an der Seite der USA gewesen. Wenig später aber, am 29. Januar 2002, habe Präsident George W. Bush in seiner „State of the Union“ Botschaft Iran auf der „Achse des Bösen“ festgemacht. Dies habe diejenigen in Iran bestärkt, die Demokratisierung mit Amerikanisierung gleichgesetzt hätten. Dem Demokratisierungsprozess sei mithin die Legitimität verlorengegangen.

Dieses mag man als einen weiteren Beleg für das sattsam bekannte Argumentationsmuster in der islamischen Welt werten, „dem Westen“ alle Probleme der islamischen Welt anzulasten.21 Die Flucht vor der Wirklichkeit sollte auch keineswegs kleingeredet oder entschuldigt werden. Eine der Herausforderungen an die islamische Welt ist, sich der Moderne und der Auseinandersetzung mit dieser ohne Tabus zu stellen. Aber der Westen und seine Politik tragen eben Mitschuld an den Verkrampfungen gegenüber dem Modernisierungsprozess weithin in der islamischen Welt. Zu Recht fordert deshalb Roman Herzog, dass wir für „unsere Vorstellungen von Menschenwürde und Menschenrechten kämpfen und werben“ müssen, aber wir könnten das in Frieden tun – „niemand müsste mehr befürchten, dass hier eine Fortsetzung alter kolonialistischer Herrschaftsmethoden mit ideologischen Mitteln stattfindet“. Vor dem Hintergrund einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung eines „Kampfes der Kulturen“ sieht Herzog den interkulturellen Dialog als „Teil einer rationalen Friedensstrategie“. Und deshalb begrüßte er die Verleihung des Friedenspreises an Annemarie Schimmel: „Und für diesen Dialog braucht man Menschen, die zwischen Kulturen wandern und die über sie Wissen vermitteln, die bereit und imstande sind, sich auch in fremde Begrifflichkeiten und Erfahrungen hineinzudenken und so das Gelernte weiter zu vermitteln, die auf diese Weise Brücken des Vertrauens bauen“.22

Der „islamische Terrorismus“ – Täter zu Opfern machen?

Das Verbrechen des 11. September 2001 hat es weiter erschwert, das Selbstverständnis der Islamwissenschaft/Orientalistik als Brücke zu bestimmen. Die Lesarten islamistisch begründeter Gewalt lagen in der deutschen Öffentlichkeit weit auseinander. Die einen sahen sich im Kriegszustand. Die Brutalität des 11. September und nachfolgender Terrorakte bestätigte ihnen einmal mehr, dass sich der Terrorismus gegen fundamentale Wertvorstellungen richtete, die dem weltweiten menschlichen Zusammenleben im 21. Jahrhundert zugrunde liegen. Tatsächlich ist nach dem Terrorakt des 11. September die Dimension des Konflikts in die Nähe eines „Dritten Weltkrieges“ gerückt worden. Dieser Einschätzung einer „islamistischen Herausforderung“ standen jene diametral gegenüber, die in Terror und Gewalttätigkeit im wesentlichen eine Antwort auf eine Politik des Westens – und insbesondere seiner Vormacht, der USA – sehen, die ihrerseits von rücksichtsloser Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen, politischer – auch militärischer – Dominanz und der Praktizierung doppelter Standards gekennzeichnet ist. Islamistische Gewalttäter werden so zu einer islamischen Variante von Verlierern der Globalisierung.

Man muss nicht notwendig zu letzterer Spezies gehören, um in den Ruch der Blauäugigkeit, der Verharmlosung oder der „Terroristen-Versteher“ zu kommen. Wer aber hat die Deutungshoheit? Wenn es der Islam ist, der von Gewalttätern instrumentalisiert wird, dann können diejenigen nicht abtauchen, aber auch nicht überhört werden, die sich mit dieser Religion, ihren theologischen, historischen, kulturellen und aktuellen politischen Erscheinungsformen, vertieft befassen. Die Wissenschaft vom Islam und der islamisch geprägten Welt muss riskieren, ihre Unschuld zu verlieren, und die Studierstube/den Hörsaal zu verlassen, in dem sie sich lange eingerichtet hatte; und sie muss sich der Herausforderung stellen, in der Öffentlichkeit die Geschehnisse zu erklären – ganz im Sinne jenes Elfenbeinturms von Wolf Lepennies, von dem aus man weit sieht.

Varianten der Deutung anzubieten, geschieht mit zwei interdependenten Zielsetzungen: Der Differenzierung und der Öffnung von Räumen politischen Handelns als Reaktion auf ein Phänomen, das nicht wegdiskutiert werden kann: die Instrumentalisierung von Religion für politische Zwecke und zur Rechtfertigung von Gewalt und Terror. Essentiell ist die Erkenntnis, dass es in der gewalthaften Begegnung nicht um einen Zusammenstoß von Kulturen oder Religionen geht. Die Herausforderung bleibt in ihrem Kern eine politische; und die Lösung des Problems liegt im politischen Raum. Nach dem Ende des Ost-West-Problems sind politische Erblasten schärfer hervorgetreten als im internationalen System vergangener Jahrzehnte. Neue politische Herausforderungen sind hinzugekommen. Im Nahen und Mittleren Osten treten sie mit besonderer Dramatik zutage. Es liegt in bestimmten Wesenszügen der Religion, dass sich der Islam für die Mobilisierung durch Konfliktparteien besonders „wirksam“ instrumentalisieren lässt. Deshalb ist es auch wenig förderlich, das Konfliktgeschehen in der Gegenwart in die Dimension des „Dritten Weltkrieges“ zu stellen. Denn auf diese Weise tritt man in die Falle jener extremistischen Minderheit unter Muslimen, die sich ihrerseits in einer globalen Auseinandersetzung mit „dem Westen“ sehen. Die Weltkriegsdimension verwischt die dringend notwendige Differenzierung. Sie verstellt auch die Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit der über einer Milliarde Muslime zwischen dem Atlantik und dem Pazifik dringlich selbst die Lösung der Konflikte und Krisen und nicht zuletzt auch die Befreiung von politischen Regimen wünscht, die im 21. Jahrhundert unzeitgemäß geworden sind.

Die nahezu globale Eskalation gewalthafter Entwicklungen seit dem Beginn des Aufmarsches der USA gegen Saddam Husain Anfang 2002 und dem Fall des baathistischen Regimes in Bagdad hat es unabdingbar gemacht, dass die Islamwissenschaft/Orientalistik noch weiter an die Politik- und Gesellschaftswissenschaften rücken, als dies ohnehin bereits der Fall gewesen ist. Der diffuse Terrorismus im Irak und im islamisch geprägten Raum zwischen Casablanca und Bali, der spätestens mit den Terrorakten in Madrid (März 2004) und London (Juli 2005) auch nach Europa herübergekommen ist, bedarf eines komplexen wissenschaftlichen Ansatzes. Das bezieht sich um so mehr auf jene Elemente des „Dschihadismus“, die Selbstmordattentate als „normale“ Waffe des Kampfes zur Erreichung welcher Ziele immer einsetzen.

Das Ergebnis muss ein sozialpsychologischer Befund sein, zu dem die Islamwissenschaft/Orientalistik einen Beitrag leisten kann – ohne jedoch den Anspruch zu erheben, ihrerseits das Phänomen erschöpfend erklären zu können.23 Die Überwindung des Phänomens wird denn auch nicht aus sich selbst heraus und von selbst erfolgen; sie wird vielmehr nur das Ergebnis einer umfassenden Änderung von Politik sein. Dies gilt sowohl mit Blick auf Teile der islamischen Welt, d.h. ihre politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Verfasstheit. Dies gilt aber auch mit Blick auf die Gestaltung der Beziehungen zwischen dem Westen und der islamischen Welt, nicht zuletzt beim Umgang mit den Konflikten in der Region des Nahen Ostens. Dass der Lösung des Nahostkonflikts dabei eine Schlüsselrolle zukommt, braucht hier nicht einmal mehr wiederholt zu werden. Aufgabe der Islamwissenschaftler ist es, deutlich zu machen, dass es „den Islam“ nicht als unwandelbares theologisches System und schon gar nicht als verbindliches politisches oder gesellschaftliches Konzept gibt. Mit Blick auf das Phänomen der Gewalt, die sich auf den Islam beruft, haben sie zu Recht immer wieder darauf hingewiesen, in welcher Weise und in welchen Zusammenhängen im 20. Jahrhundert aus einer Religion im Sinne des Glaubens an Gott eine Ideologie im Sinne der Ausrichtung von Handeln an selektiv und subjektiv vorgenommenen Interpretationen von Elementen des Islams gemacht worden ist.

Der Islam in unserer Gesellschaft

Differenzierung aber tut auch Not, um den Frieden in unserer eigenen Gesellschaft nicht zu gefährden. Unabweisbar wird der Islam zu einer immer nachhaltiger sichtbaren Facette der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Deutschland (und Europa). Dabei leben alle Erscheinungsformen von Muslimen, welche die islamische Welt selbst kennzeichnen, auch unter uns. Dazu gehören Extremisten; die überwältigende Mehrheit aber sucht – jedoch ohne auf eine islamische Identität zu verzichten – an einer freiheitlichen Ordnung und den Chancen einer liberalen Wirtschaftsordnung teilzuhaben. Auch in diesem Falle ist die Islamwissenschaft nur eine Stimme in einer komplexen Antwort auf zahlreiche Fragen. Im Mittelpunkt ihres Parts steht die Erörterung darüber, ob und in welcher Weise sich der Islam als Religion, aber insbesondere als religiös-gesellschaftliches und religiös-politisches Phänomen verändern muss und kann, um auch Muslimen in den säkularen, liberalen, demokratisch verfassten und auf die Menschenrechte ausgerichteten Gesellschaften Europas ihren Platz zu geben. Dass dies keine leichte Aufgabe ist, ist angesichts des „Unbehagens am Islam“ in breitesten Teilen der Bevölkerung nachvollziehbar. Und an keinem anderen Punkt der Gegenwart des Islams und der Muslime ist die Islamwissenschaft derart verführt, sich zur Bestätigung weltanschaulicher und politischer Konzepte, ja Vorurteile und Klischees, instrumentalisieren zu lassen. So schießen denn auch „Islamwissenschaftler“ wie Pilze aus dem Boden, die man als „selbsternannt“ zu qualifizieren geneigt ist. Aber wo ist die Grenze zwischen genuinem und selbsternanntem Expertentum? Sie ist um so schwerer zu ziehen, als die Medien eher geneigt sind, den „Bauch“ zu bedienen; d.h. jenen Gefühlen Nahrung zu geben, für die der Islam per definitionem eine Religion ist, die mit der Moderne und damit auch mit modernen politischen und gesellschaftlichen Systemen inkompatibel ist. In dieser konfrontativen und polarisierten Situation erscheinen diejenigen Islamwissenschaftler, die auf die Vielfalt der Erscheinungsformen des Islams, die zahlreichen Ansätze der Modernisierung überall in der islamischen Welt verweisen und mithin zu dem Ergebnis kommen, dass es der islamischen Welt möglich sein wird, einen eigenen Weg in eine Moderne zu gehen, die eine globale Bedeutung erhalten hat, als blauäugig.

Der Islamwissenschaftler/Orientalist muss heute – nach seiner Entscheidung für sein Fach – noch eine andere Entscheidung treffen: Wo er seine wissenschaftliche Tätigkeit ansiedelt – im Elfenbeinturm oder auf dem Elfenbeinturm. Wenn er sich für letzteres entscheidet, ist er sichtbar und sieht vieles. Er ist Teil der Gesellschaft; dieser muss er vermitteln, was er tut und ermittelt. Er benötigt heute – wer hätte das Anfang der siebziger Jahre gedacht, als Moderne und Gegenwart auch für die Islamwissenschaft/Orientalistik zum Thema wurden – Zivilcourage. In seiner Arbeit sieht er sich mit Lobbies und Interessengruppen konfrontiert, die politisch und gesellschaftlich besser vernetzt sind als er, der seine Unabhängigkeit bewahren muss. Im Gefolge des 11. September 2001 hat sich die Spannung zwischen Vorurteilen und Interessen auf der einen und der Expertise des Islamwissenschaftlers/Orientalisten auf der anderen Seite verschärft. Wie ist das Verhältnis von Islam und Gewalt; wo liegt der Übergang von islamischer Frömmigkeit zu islamistischem Extremismus? Hier tun sich nicht selten unterschiedliche Einstellungen zu jenem Establishment auf, das für die innere Sicherheit zuständig ist. Ist der Islam in einer Weise modernisierbar, dass Muslime sich als europäische Bürger islamischen Glaubens in den europäischen Gesellschaften integrieren? Gibt es also einen europäischen Islam, der mit dem Grundgesetz und der Wertordnung kompatibel ist, auf dem das Grundgesetz beruht? Oder ist „die Shari’a“ ein unumstößlich festes Rechtssystem, das unabdingbar eine Kluft zwischen der „islamischen Gemeinschaft“ und der „deutschen Gesellschaft“ aufreißt? Hier legt sich der Islamwissenschaftler mit jenem breiten, hoch emotionalisierten Strom in der deutschen Bevölkerung an, der „den Islam“ als das Gegenstück schlechthin zu den europäischen Errungenschaften, die durch Renaissance und Aufklärung erreicht wurden, wahrnimmt. Sie hatten ihre Hochgefühle im Zusammenhang mit dem „Karikaturenstreit“.24 „Muslime“ seien unfähig, Bürgerrechte im europäischen Sinne zu akzeptieren, zu denen das Recht auf freie Meinungsäußerung gehöre. Den Fundamentalisten der Meinungsfreiheit ist selbstverständlich, dass die hohen Güter, die Europa durch die Geschichte der letzten Jahrhunderte geschaffen hat, nicht nachvollziehbar sind für die Angehörigen einer Religion, die nach weitest verbreiteten Einschätzungen das Mittelalter noch immer nicht hinter sich gelassen hat.

An dieser Stelle treten Fronten mit Blick auf politische Herausforderungen auch außerhalb der eigenen Gesellschaft ins Bild. So etwa in der Frage nach der Zukunft der Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union. Die „Abendländer“, die – wie in der Debatte um die Migration von Muslimen nach Deutschland – unter sich bleiben wollen, sehen eine derartige Andersartigkeit der Identitäten zwischen „Muslimen“ und „Europäern“, dass die Mitgliedschaft der Türkei in der EU „das Projekt der politischen Einheit Europas torpedieren“ würde.25 Diese unhistorisch apodiktische und populistische Feststellung durch Untersuchungen zu korrigieren, die sich der Instrumente und Methoden der Turkologie (als einer Kulturwissenschaft) bedienen, wird als „kulturalistisch“ abgetan.

Politisch besonders brisant können die gegensätzlichen Wahrnehmungen werden, wenn Israel ins Bild tritt. Die Kritik an Israels Politik in den besetzten Gebieten – welcher Islamwissenschaftler/Orientalist könnte sich ihrer enthalten – wird nicht nur allzu leicht in die Ecke des Antisemitismus geschoben. Die Argumentationskette pflegt vielmehr diese kritische Einstellung mit der in der Grundhaltung konstruktiven und differenzierten Position des Zeitgeschichtlers/Islamwissenschaftlers/Orientalisten gegenüber dem Islam in einen Zusammenhang zu bringen: Zwischen Islam und Islamismus sowie sich islamisch rechtfertigender Militanz nicht mehr differenzierend wird der Islamwissenschaftler/Orientalist zum Parteigänger eines „Islams“ abgestempelt, dessen Ziel die Vernichtung Israels sei. Dabei wird die psychologische Dimension des Palästina-Problems mit Blick auf den islamisch geprägten Nahen Osten, ja die islamische Welt jenseits desselben, bewusst ausgeklammert. Die anhaltende Besatzung und ihre gewalthaften Begleiterscheinungen wird von Arabern als tiefe Demütigung auch im Horizont der islamischen Religion wahrgenommen. Aus dieser Demütigung erwächst Gewaltbereitschaft. Wer vermöchte diesen Zusammenhang besser zu verstehen als der Islamwissenschaftler? In einer polarisierten politischen und gesellschaftlichen Konstellation – sowohl mit Bezug auf Israel als auch auf den Islam – kann es im Extrem zu existenzbedrohlichen Kampagnen kommen. Sie finden in der lapidaren Drohung: „Und so einer wird aus Steuermitteln bezahlt“, gleichermaßen ihren Brennpunkt und ihr Totschlagargument. Damit aber ist zum Ausdruck gebracht, welchen hohen gesellschaftlichen Stellenwert die Islamwissenschaft/Orientalistik heute einnimmt. Dass er kontrovers sein muss, liegt in der Natur der Sache.

1 Frau Schimmel ist auch in ihrer Dankesrede anlässlich der Preisverleihung noch einmal auf die Situation zurückgekommen, die sie offenkundig bewegt hat. Die Rede A. Schimmels zum Thema „Dem stillen Dialog verpflichtet“ ist vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels im Rahmen der Publikation „Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1995“, Frankfurt a.M. 1995 im Verlag der MVB, veröffentlicht worden.
2 Udo Steinbach: Dhat al-Himma. Kulturgeschichtliche Untersuchungen zu einem arabischen Volksroman, Wiesbaden 1972.
3 Klaus Ritter gründete die als politischen Think Tank konzipierte Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) 1965 und war bis 1988 ihr erster Direktor. Er ist Neffe des Islamwissenschaftlers Hellmut Ritter (1892 – 1971).
4 Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 8. Oktober 2006 in der Frankfurter Paulskirche. In: Berliner Journal für Soziologie, 17 (März 2007) 1, S. 131-136.
5 Said, Edward D.: Orientalism, New York 1978.
6 Alexander Haridi: Das Paradigma der „islamischen Zivilisation“ – oder die Begründung der deutschen Islamwissenschaft durch Carl Heinrich Becker (1876-1933), Würzburg 2005.
7 Gerhard Höpp/Peter Wien/René Wildangel (Hrsg.): Blind für die Geschichte? Arabische Begegnungen mit dem Nationalsozialismus, Berlin 2004; Gerhard Höpp (Hrsg.): Mufti-Papiere. Briefe, Memoranden, Reden und Aufrufe Amin al-Husainis aus dem Exil, 1940-45, Berlin 2001.
8 Klaus-Michael Mallmann/Martin Cüppers: Halbmond und Hakenkreuz. Das Dritte Reich, die Araber und Palästina, Darmstadt 2006.
9 Ibid., S. 243-258.
10 Ibid., S. 253.
11 Ibid., S. 257.
12 Ibid., S. 257.
13 Ibid., S. 258.
14 Weimarer Gespräch von Präsident Seyed Mohammad Khatami und Bundespräsident Johannes Rau am 12. Juli 2000 im Schloss zu Weimar. In: Seyed Mohammed Khatami: Religiosität und Moderne, Heidelberg: deux mondes, 2001, o.S.
15 Weekly Press Digest (Teheran), Nr. 7, 7.2.-13.2.2004.
16 S.o. Anm. 14.
17 Roman Herzog (ed.): Dialogue of Cultures – the Future of Relations Between Western and Islamic Societies (Report on a Conference held at the initiative of the German President Roman Herzog), Berlin 1999.
18 Die Laudatio von Bundespräsident Roman Herzog ist zu finden unter: http\\www.bundespraesident.de\dokumente\-2.12136\Rede\dokument.htm.
19 M. Khatami: Auch die Tradition ist nicht ewig. In: FAZ, 1. August 1998; id.: Keine Religion ist im Besitz der absoluten Wahrheit. In: FAZ, 26. September 1998; R. Herzog: Warum der Westen lernen muss, skeptisch zu werden. In: FAZ, 30. April 1999; M. Khatami: Dialog der Zivilisationen – östliche Spiritualität und westliche Rationalität. In: Die Welt, 7. August 1999.
20 Zur Berliner Erklärung und der einschlägigen Konferenz, aus der sie hervorgegangen ist, s. Heiner Bielefeld in Orient, Bd. 37 (1999), S. 38-47.
21 Bassam Tibi: Die Verschwörung. Das Trauma arabischer Politik, Hamburg 1993.
22 S.o. Anm. 18.
23 Vgl. etwa Olivier Roy: Globalized Islam. The Search for a New Ummah, London 2004.
24 Karikaturen in der dänischen Zeitung “Jyllands-Posten”, die islamistische Gewalt mit dem Propheten Muhammad in Verbindung brachten, führten 2005 zu teils heftigen und gewalttätigen Protesten unter den Muslimen in Europa und in der islamischen Welt. In Europa selbst standen sich zugleich kompromisslose Vertreter der Meinungs- und künstlerischen Freiheit auf der einen und einer gebotenen Zurückhaltung angesichts muslimischer Empfindlichkeiten auf der anderen Seite gegenüber
25 Hans-Ulrich Wehler: Verblendetes Harakiri. Der Türkei-Beitritt zerstört die EU, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), Nr. 33-34, 9. August 2004.