Laudatio auf Schirin Ebadi - Toleranzpreis der Evangel. Akademie Tutzing - Oktober 2008

Veröffentlicht: Mittwoch, 22. Oktober 2008 16:56

Hochverehrte Preisträgerin Schirin Ebadi


Die Vision von der gerechten Ordnung hat eine lange Tradition in Iran. Unter den vielen Geistern, die sich ihr verschrieben haben, lassen Sie mich nur einen – stellvertretend – zitieren; den seldschukischen Wesir und großen Staatsdenker Nizam al- Mulk. Er schreibt um 1091 in seinem „Siyasatnameh“, dem „Buch von der Politik“: „Die Herrscher müssen die Zufriedenheit des Erhabenen im Auge behalten. Die Zufriedenheit des Wahren - erhaben ist sein Name! – liegt darin, dass man den Menschen wohl tut. Hierzu genügt schon die Ausbreitung der Gerechtigkeit unter ihnen. Wenn die Menschen ständig das Gute herabflehen, wird das Reich fest stehen und alle Zeit noch zunehmen. (…) Denn es heißt: das Reich dauert schließlich noch mit Unglauben, aber nicht mit Ungerechtigkeit“.

Die orientalische Despotie zieht sich als roter Faden durch die Jahrtausende alte Geschichte Irans. Ihre Summe hat uns Firdowsi (934-1020), der iranische Nationaldichter – gleichsam der „iranische Homer“ -, in seinem gewaltigen „Schahnameh“ („Königsbuch“) überliefert. Insbesondere die iranischen Dichter aber sind es gewesen, die die unbegrenzte Herrschaft an das Prinzip der Gerechtigkeit gebunden haben. Das Ideal des gerechten Herrschers durchzieht insbesondere auch die iranische Dichtung. Nizami (1141-1211), der große Epiker von weltliterarischer Statur, lässt den nach endlosen Kämpfen schließlich zum Philosophenkönig gewordenen Alexander sagen: “Dank sei dem Schöpfer, der sich Seinen Dienern erkenntlich zeigt, wenn sie Ihn loben. Er hat mein Haupt vom Kissen des Staubes bis in das Licht der Gestirne erhoben. (. ..) Vom himmlischen Richter empfing ich den Auftrag, mein Richteramt unermüdlich zu üben, den Unterdrückten zu ihrem Recht zu verhelfen, die Nacht der ins Dunkel Gestoßenen aufzuhellen. Den Weg der Wahrheit will ich heute beschreiten.“ 

Sie, verehrte Frau Ebadi, stehen in Ihrem Kampf für das Recht, dafür dass alle – Individuen wie gesellschaftliche Gruppen – in gleicher Weise an der auf Gerechtigkeit gegründeten Rechtsordnung teilhaben, in einer langen Tradition des iranischen Volkes. An ihrem Ende steht der Kampf der Iraner im 20. Jahrhundert. Für Rechtsstaatlichkeit und Freiheit von auswärtiger Einmischung haben sie zwei Revolutionen gemacht: die eine von 1905 bis 1907 und die andere con 1977 bis 1979. Die eine endete nach Jahren innerer Kämpfe in der autokratischen Monarchie der Pahlawi; in ihr wurden Menschen um ihres Strebens nach Pluralismus und Demokratie willen verfolgt. Die andere in einer Islamischen Republik; in ihr werden Verfolgung und Diskriminierung auf der Grundlage einer spezifischen Interpretation der islamischen Religion gerechtfertigt.

 Ihr Kampf für eine Korrektur dieser nachrevolutionären Fehlentwicklung wird heute von Millionen von Iranerinnen und Iranern in nahezu allen gesellschaftlichen Gruppen und Schichten mitgetragen. Ihnen geben Sie eine Stimme und ein Gesicht. Und deswegen war der Jubel unter vielen Iranern so groß, als Ihnen 2003 der Friedensnobelpreis verliehen wurde.

Die Frage wurde berühmt: „Was ist Wahrheit?“ Und wir könnten mit Blick auf das heutige System Irans fragen: „Was ist Gerechtigkeit?“ Nehmen die Machthaber nicht auch in Anspruch, Gerechtigkeit, eine auf der Religion gründende Gerechtigkeit nämlich, zu üben?

Was ist Ihr, verehrte Frau Ebadi, Verständnis von Gerechtigkeit, für deren Verwirklichung Sie und so viele Iranerinnen und Iraner eintreten? Das alte Regime hatte Sie als junge Frau zur Richterin, der ersten in Iran überhaupt, gemacht. Gleichwohl haben Sie – wie die Masse der Menschen in Iran – die Revolution begrüßt; denn es war keine gerechte Ordnung. Sie wären gern Richterin geblieben, aber das neue Regime erteilte Ihnen aus religiösen Gründen Berufsverbot. Viele Jahre mussten Sie untätig bleiben. Später konnten Sie Anwältin werden; diesen Beruf üben Sie bis heute aus. Zwei Überzeugungen sind an der Wurzel Ihres Wirkens: Zum einen die Überzeugung von der Vielfalt der Erscheinungsformen des Menschseins – auch und gerade der menschlichen Kulturen. Und zum anderen die Überzeugung, dass der Respekt vor dem Leben, der Würde und dem Eigentum des Menschen der Kern jeder Kultur und jeder Religion ist. Vor diesem Hintergrund ist der Fixstern Ihrer ethischen Einstellung und Ihres politischen und juristischen Handelns die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (sie wurde übrigens genau vor 60 Jahren verabschiedet). Sie werde von einem Weltethos gestützt. „Da das Ethos die Grundlage der Gesetze ist, kann kein Staat mehr unter Berufung auf die inneren Angelegenheiten und Gesetze die Menschrechte verletzen“, haben Sie immer geäußert.

Damit befinden Sie sich in der Gesellschaft bedeutender Geister Ihres Volkes. Bereits ein Jahrzehnt nach der Revolution setzten sich eine Reihe iranischer und deutscher Persönlichkeiten zusammen: Philosophen, Theologen, Juristen und Politikwissenschaftler. Unsere Frage war: Können die Menschenrechte (als ein in Europa entstandenes Konzept) auch in einem vom Islam geprägten gesellschaftlichen und politischen System Geltung finden? In einem System also, das die vollständige Emanzipation des Menschen aus dem religiösen Raum nicht zur Grundlage seiner Gesetze und Institutionen macht? Gibt es unterschiedliche, spezifisch islamische Konzepte von Menschenrechten – mit unterschiedlicher Menschenrechtspraxis im politischen und gesellschaftlichen Raum? Hat die Allgemeine Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen wirklich universale Geltung? Am Ende war die Antwort positiv: Für den religiösen Muslim ist der Ausgangspunkt allen Seins, auch des menschlichen, die Erschaffung durch Gott. Als Geschöpf Gottes aber ist er Träger einer Würde, die ihm kein Mensch und kein System nehmen können. Er ist frei in seinen Entscheidungen – auch in Sachen von Glauben und Religion. Mann und Frau sind gleich. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“; dieser Satz (Paragraph eins des Grundgesetzes) müsste also geradezu zwingend Richtschnur der Menschenrechtspraxis eines Regimes sein, welches Gott selbst mittels seines Gesetzes die Gemeinde leiten lässt. Im Lichte dieses Befundes bekannten sich die iranischen Teilnehmer an dem Menschenrechtsdialog zur uneingeschränkten Geltung der Allgemeinen Menschenrechtserklärung. 

Sie selbst, liebe Schirin Ebadi, bekennen sich immer wieder als gläubige Muslimin. Zwar liegt Ihre persönliche Präferenz bei einer Trennung von Religion und Staat. Aber dieses Ergebnis der Überlegungen des Gesprächskreises zu den Menschenrechten hätten Sie mitgetragen. „Die Wahrheit ist“, so schreiben Sie einmal, „dass man durch eine richtige und dynamische Auslegung des Islams sowohl Muslim sein als auch die Menschenrechte respektieren und einhalten kann“. Mit bewundernswertem Mut legen Sie den Finger auf den Tatbestand, dass heute in vielen Ländern der islamischen Welt der Islam zur Rechtfertigung von Machtmissbrauch und Gewalt instrumentalisiert wird. Sie träumen von der Gründung einer „Einheitsfront“ von Muslimen, die „unter der Wahrung der heiligen Werte des Islams gegen totalitäre Staaten kämpfen“.

An dieser Stelle wird die Verleihung eines Preises, der die Idee von Frieden und Toleranz befördern will, zu einer Herausforderung an uns selbst. Hören wir Stimmen wie die Ihrige mit jenem Respekt und jener Aufmerksamkeit, die uns selbst in Stand setzen, Muslimen sowohl weithin in der Welt als auch in unseren eigenen Gesellschaften friedlich und tolerant zu begegnen? Wird nicht jenen Eiferern über Gebühr Gehör geschenkt, die „den Islam“ als grundsätzlich modernisierungsfeindlich und potentiell gewalthaft verunstalten – mit welchen politischen und gesellschaftspolitischen Hintergedanken auch immer? Wird damit nicht Wasser auf die Mühlen jener geleitet, von denen Sie sich, liebe Schirin Ebadi, im Namen „eines jeden denkenden Muslimen“, abwenden, „der bei Wahrung der Religion seiner Vorfahren und Ahnen der Demokratie Respekt zollt, nicht nach einem unrechten Wort handeln will und Gewalt und Unterdrückung nicht duldet?“ Die Verleihung eines Toleranzpreises an Sie sollte jedenfalls zugleich Anlass für uns selbst sein, kritische Rückfragen auch an uns zu richten, ob wir nicht allzu häufig, nicht zuletzt wenn es um den Islam geht, Selbstgerechtigkeit mit Wahrheitsanspruch verwechseln. Ob wir nicht in einer Welt, in der andere Kulturen wieder in Erscheinung treten und Menschen Halt und Gewissheit ihrer selbst geben, allzu dünkelhaft an dem Anspruch festhalten. die einzigen gültigen Interpreten von Moderne zu sein.

In Iran ist vieles in Bewegung. Während auf der politischen Oberfläche die laute Rhetorik den Stillstand und die anhaltende Unterdrückung verdecken soll, hat sich die Gesellschaft verändert und verändert sich weiter. Die Proteste der Künstler, Schriftsteller und Journalisten, die den Mangel an Meinungs- und Pressefreiheit anprangern, finden breite Resonanz. Die Studenten nennen den Präsidenten einen Diktator. Sie, Frau Ebadi, haben viele Angehörige dieser Gruppen als Anwältin verteidigt, wenn diese mit einem Staat in Konflikt kommen, der die Spielräume von Menschen- und Bürgerrechten im Namen eines religiös-ideologischen Konzepts von Politik und Gesellschaft eng macht. 

Ihr zutiefst verwurzeltes Engagement aber gehört zwei Gruppen, die durch das bestehende Rechtssystem selbst eine ständige Verwundung erfahren: den Kindern und den Frauen. Den Kindern, die durch ein ihnen unzuträgliches Sorgerecht unter Bedingungen aufwachsen, die ihr weiteres Leben zerstören. Und den Frauen, die aufgrund einer vergangenen Zeiten angehörige Interpretation des islamischen Rechts zu Menschen zweiter Klasse gemacht werden. Unter dem – von vielen Frauen nicht geliebten - Tschador haben sich die Frauen in Iran aufgemacht, im Namen des Islams selbst die Ketten abzuwerfen und sich einen gleichberechtigten Platz in der Gesellschaft zu erkämpfen. Dass dies im Islam auch theologisch rechtens ist, haben den Frauen die Teilnehmer zuvor erwähnten Menschenrechtsgesprächskreises bestätigt. Die Aktivistinnen sammeln gegenwärtig eine Million Unterschriften unter eine Petition, die von den Vertretern des Regimes Gleichberechtigung einfordern wird. Einige von ihnen wurden verhaftet. Dass Sie, Schirin Ebadi, an ihrer Seite stehen, haben Sie in einer Art Autobiographie („Mein Iran“) bestätigt, wenn Sie schreiben: „Nicht die Religion ist die Fessel der Frauen, sondern das selektive Diktat derer, die sie von der Welt abgeschlossen sehen wollen.“

 Die große zeitgenössische Dichterin Nahid Kabiri, sagt in einem Gedicht unter dem Titel „Genehmigung: Mein Herr gestatten Sie / Dass ich an einem dieser dreihundertfünfundsechzig Tage ich selbst bin? / (…) / Mein Herr gestatten Sie / Dass ich ohne Erlaubnis aus diesen Breiten / Übersiedle ins Heiligtum der Rose / Auf den Ebenen des Frühlings / Mein Herr gestatten Sie? / Gestatten / Gestatten / Gestatten Sie? / Dass ich über alles lache, was ist / Dass ich sage, Ihr Gesetz ist falsch / Diese Rechtspflege ist ein Betrug?“

Eine überaus anrührende Szene in Ihrem Buch ist die Beschreibung jenes begeisterten Empfangs am Flughafen Teheran, der Ihnen bei Ihrer Rückkehr aus Paris, wo Ihnen die Nachricht der Verleihung des Friedensnobelpreises übermittelt wurde, von Zehntausenden von Menschen, zur großen Mehrheit Frauen, bereitet wurde. „In der Nähe des vom Schah im Süden von Teheran auf dem heutigen Freiheitsplatz errichteten Triumphbogens entdeckte ich eine Frau mit einem Kind an der Hand, ein behelfsmäßiges Plakat in der anderen Hand haltend. Es verschlug mir den Atem. denn auf dem Plakat stand einfach: „DAS ist der Iran.“
  

DAS ist der Iran – warum bemühen wir uns so wenig zu verstehen, WAS der Iran ist? Die Wahrnehmung hierzulande macht sich fest an törichten Sprüchen des jetzigen Staatspräsidenten, die auch unsere – die deutsche - Vergangenheit berühren. In Iran schämt sich eine Mehrheit in der Gesellschaft für diese Sprüche und der Vorgänger des jetzigen Präsidenten bekennt offen, dass es - natürlich! – den Holokaust gegeben habe; er sei das schamvollste Kapitel der neueren Geschichte Europas. Und wenn es um die Entwicklung der nuklearen Technologie durch Iran geht, ein Recht das dem Land nach internationalen Abkommen zusteht, sehen wir darin zuallererst eine Bedrohung, eine Wahrnehmung, die wir uns gegenüber keiner anderen Nuklearmacht leisten – auch nicht gegenüber solchen, die im Gegensatz zu Iran den Nichtverbreitungsvertrag nicht unterschreiben haben. Die Drohung militärisch vorzugehen steht im Raum und ist mehr als ernst zu nehmen. Damit soll nicht nur das iranische Nuklearprogramm zerschlagen, sondern auch ein Regimewandel in Richtung auf Demokratie herbeigeführt werden.

Sie, verehrte Frau Ebadi, haben Ihre Sicht der Dinge bei zahlreichen Gelegenheiten öffentlich gemacht. Unter anderem im Januar 2006 in englischsprachigen Zeitungen. Ihre Argumentation ist eine dreifache: Hört nicht auf ihn (gemeint ist Präsident Ahmadineschad); er spricht nicht für uns, die Mehrheit der Iraner. Eure lautstarke Aufmerksamkeit macht ihn im Inneren nur stärker. Was das Atomprogramm betrifft, so bin auch ich, Schirin Ebadi, für die friedliche Nutzung der Kernenergie durch Iran. Sie wird ein Symbol dafür sein, dass wir Iraner endlich in der Gemeinschaft der entwickelten Nationen angekommen sind. Jenseits des Atomprogramms aber unterstützt jene Kräfte in Iran, die auf einen Wandel von innen in Richtung auf Demokratie und Menschenrechte wirken; die Stärkung von Demokratie und Menschenrechten ist die beste Sicherheit dafür, zu verhindern, von der zivilen zur militärischen Nutzung der Kernenergie überzugehen.

Warum hört man in der Welt der großen Mächte nicht auf Sie – eine Trägerin des Friedensnobelpreises! Könnte es sein, dass wir in den Preisträgern nicht wirklich diese ehren, sondern über sie uns selbst verlauten lassen; unsere Werte, wie wir sie verstehen, und unsere Interessen, sie global in unserem Namen durchzusetzen?

Ihr Bekenntnis ist klar: Sie verstehen sich als Glied in der Kette derer, die die Menschenrechte weltweit durchzusetzen bemüht sind. Mit Blick auf Iran warnen Sie in Ihrem Buch: „Ich kann mir kein alarmierenderes Szenario denken, keinen gefährlicheren innenpolitischen Wechsel als einen, der vom Westen hervorgerufen wird, in dem Glauben, er könne dem Iran die Demokratie entweder durch militärische Stärke oder durch die Anstiftung zu einem gewaltsamen Aufstand bringen.“ 

Dieser Mut, gegen die Willkür der Machthaber zu stehen – nach innen wie nach außen -, und zugleich die Kraft aus dem eigenen Volk, der eigenen Kultur zu schöpfen – DAS ist für Sie Ihr Iran. 

Sie schreiben: „Und so erinnere ich mich daran, dass unser größter Feind die eigene Angst ist; dass es unsere Angst ist, die Angst der Iraner, die sich eine andere Zukunft wünschen, die unseren Gegnern Macht verleiht.“ Davon – und das wird Ihnen Mut machen – hat schon der wohl größte Dichter Ihres Volkes, Hafiz (1325 – 1392), gesprochen, als er dichtete:

( Persisch: schab-e tarik u bim-e moudsch…) 

„Die schwarze Nacht, der Wogen wildes Brausen,
der Wasser Strudel, tiefer Schlünde Grausen;
Was wissen die, wie uns der Sinn beschaffen, 
die leichten Muts am Ufer stehn und gaffen? „

Nicht zuletzt wenn es um Iran geht, gehören wir zu denen, die „leichten Muts am Ufer stehn und gaffen“, während Sie und unzählige andere Iraner einen mutigen und – wie jeder Tag beweist – gefahrvollen Kampf austragen. 

Verehrte Frau Ebadi, mit dem Toleranzpreis der Evangelischen Akademie Tutzing wollen wir dieses Ihr beispielhaftes Handeln würdigen. Zugleich aber wollen wir mit diesem Preis ein öffentliches Zeichen setzen, das die Verantwortlichen bei uns bewegt, eine andere Politik zu machen.  
   
Tutzing, am 1. Oktober 2008

UDO STEINBACH