Perspektiven der Kurdischen Frage - Februar 2010

Veröffentlicht: Donnerstag, 25. Februar 2010 14:38

Eine der großen Herausforderungen an die internationale Politik im 21. Jahrhundert ist die Lösung der „Kurdischen Frage“. Sie hatte sich vor nahezu 100 Jahren schon einmal gestellt. Als das Osmanische Reich 1918 zusammenbrach, wurde dessen Territorium neu aufgeteilt. Mit der Ausnahme Irans, dessen Staatlichkeit auf das 16. Jahrhundert zurückgeht, fanden sich die Kurden in den neuen Staaten wieder – wie sich mit den Jahrzehnten herausstellte als Bürger zweiter Klasse. Nur gelegentlich, in der Republik von Mahabad in Iran, in den von Mustafa Barazani geführten Aufständen im Irak und in den von der PKK geführten militanten Operationen in der Türkei war erkennbar, dass die kurdische Frage nicht beantwortet war.

Ist das „Kurdenproblem“ die Palästina-Frage des 21. Jahrhunderts? Das heißt wird es gelingen, für das kurdische Volk einen politischen Status zu schaffen, der einerseits seinem Anspruch auf nationale Anerkennung Rechnung trägt, andererseits aber das bestehende Staatensystem nicht grundlegend verändert? Von der Antwort auf diese Frage wird die Stabilität der Region abhängen, die von den Staaten Türkei, Iran, Irak und Syrien geprägt ist. Angesichts der strategischen Bedeutung dieser Region, d. h. nicht zuletzt vor dem Hintergrund der weltweiten Erdöl- und Erdgas-Versorgung hat die Lösung der kurdischen Frage einen hohen Stellenwert auch für die internationale Politik.

Seit dem Sturz des Saddam – Regimes in Bagdad haben sich neue Perspektiven für die Lösung des Problems ergeben – dies auf allen Ebenen: unter den Kurden selbst, im regionalen Umfeld und in der Haltung der internationalen Gemeinschaft.

Durch das zwanzigste Jahrhundert haben die Kurden gezeigt, dass ihr nationaler Anspruch durch repressive Maßnahmen nicht zu unterdrücken ist. Bereits in den neunziger Jahren konnten im Nordirak kurdische Politiker der beiden großen politischen Gruppierungen unter den Bedingungen des gegen Bagdad verhängten Embargos beginnen, Strukturen einer eigenständigen Verwaltung aufzubauen. Dieser Prozess hat sich nach dem Sturz des Ba’th – Regimes, das auf der Vorherrschaft des arabischen Nationalismus beruhte, fortgesetzt. Irakisch – Kurdistan hat heute eine stabile Regierung und ein parlamentarisches System, das zwar europäischen Standards noch nicht gleich gestellt werden kann, aber – wie die jüngsten Wahlen gezeigt haben – eine breite Teilhabe der Bevölkerung ermöglicht. Strukturen der Verwaltung und des Bildungswesens sind im Aufbau und die Einnahmen aus dem Öl geben der Verwaltung eine wirtschaftliche Grundlage. Die Anbindung an das internationale Verkehrsnetz und eine Reihe von Konsulaten zeigen eine zunehmende internationale Akzeptanz und Vernetzung des kurdischen Selbstverwaltungsgebiets im Nordirak. Direkte diplomatische Kontakte der politischen Führer der Kurden in die Hauptstädte der Nachbarländer, vor allem Ankara und Teheran, haben erkennen lassen, dass auch die Türkei und Iran den kurdischen Weg in Richtung auf eine politische Existenz, die es gestattet, eine eigenständige kurdische Identität zum Ausdruck zu bringen, nicht grundsätzlich blockieren.

In welcher Weise sich der Aufbau eines im staatsrechtlichen Sinne föderalistischen irakischen Staates gestaltet und damit dem kurdischen Volk ein umfassender Ausdruck nationaler Identität möglich ist, werden die nächsten Wahlen im Irak im März 2010 zeigen. Die Entwicklungen in Irakisch-Kurdistan werden in den Nachbarländern aufmerksam verfolgt. Wichtige Entwicklungen für die Lösung der kurdischen Frage haben sich in den letzten Jahren in der Türkei gezeigt. Bereits in den neunziger Jahren war die Politik Ankaras gegenüber dem Irak von der Befürchtung geleitet, der Irak könne zerfallen. Im Norden des Irak – so die Befürchtung - würde ein Vakuum entstehen, von dem aus antitürkische Kräfte militärisch gegen die Türkei operieren könnten. Ankaras Irak-Politik war in erster Linie von Erwägungen bezüglich der Sicherheit der Türkei bestimmt. Mit der amerikanischen Invasion im Irak und dem Sturz vergrößerten sich diese Ängste. Nichts fürchtete Ankara mehr als das Entstehen eines kurdischen Staates im Nordirak. Der türkische Film „Das Tal der Wölfe“ reflektiert eindringlich die Mischung von türkisch nationalistischer, antikurdischer und antiamerikanischer Wahrnehmung.

In den letzten Jahren hat sich die Haltung auf Seiten der türkischen Regierung unter Ministerpräsident Erdogan und Staatspräsident (dem früheren Außenminister) Abdullah Gül entspannt. Wechselseitige Besuche in Ankara bzw. Erbil und Suleimaniya haben stattgefunden. Die türkische Wirtschaft engagiert sich stark in Irakisch-Kurdistan. Diese Entspannung ist von Bemühungen begleitet, in der Türkei das „Kurden-Problem“ zu lösen Die Regierung hat eine intensive Kampagne entfacht, den Forderungen der Kurden nach Anerkennung der kulturellen Identität und umfassenden politischen Rechten im Rahmen einer Vertiefung des demokratischen Systems in der Türkei entgegen zu kommen.

Die jüngsten Entwicklungen in der Türkei haben freilich gezeigt, dass die Regierung von einer Lösung des „Kurdenproblems“ weit entfernt ist. Im Machtkampf zwischen der kemalistischen – zivilen und militärischen – Staatselite und der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) wird die kurdische Frage auf beiden Seiten instrumentalisiert. Der Politik der Regierung, auf dem Weg der Demokratisierung zu einer neuen Gesellschaft in der Türkei zu kommen, in der politische und kulturelle Vielfalt anerkannt wird, stellt die traditionelle kemalistische Elite das Konzept des unitären türkischen Staates gegenüber. Die Kurdenfrage wird auf den Kampf gegen den Terrorismus der PKK reduziert.

Eine solche Agenda, deren Umrisse seit 2005 erkennbar ist, bringt das Militär wieder als zentralen Akteur zurück. Seit der Übernahme der Regierung durch die AKP hatte die Rolle des Militärs im Staate an Bedeutung verloren. Mit dem Beginn des gerichtlichen Verfahrens unter dem Namen „Ergenekon“ ist das Militär unter erheblichen Druck geraten. Zug um Zug wird seine Verwicklung in Putschpläne, Versuche der gesellschaftlichen und politischen Destabilisierung des Landes bis hin zu gezielten Auftragsmorden enthüllt. In der Türkei geschieht gegenwärtig nichts Geringeres als eine Neuschaffung des Systems im Dreieck von Staat – Armee (und ziviler Staatselite ) – und Gesellschaft. Der Machtkampf ist noch nicht entschieden. Das jüngste Verbot der Partei der Demokratischen Gesellschaft (DTP) hat die Machtverhältnisse noch einmal deutlich machen sollen. Die sich daran anschließenden Unruhen und die Unterdrückung kurdischer Aktivisten haben gezeigt, dass die Destabilisierung der Innenpolitik nicht nur hingenommen wird, sondern vielmehr ein Teil der Strategie ist. Mit dem Kampf gegen Terroristen und Separatisten wird von der Armee (und der politischen Opposition) das Recht abgeleitet, in Irakisch-Kurdisten militärisch zu intervenieren.

Die Entwicklung der kurdischen Frage in der Türkei ist auch in einem breiteren regionalen Rahmen zu sehen. Unübersehbar hat sich die AKP-Regierung daran gemacht, eine Politik des Ausgleichs und der Konfliktvermittlung im regionalen Umfeld zu verfolgen. Die Formeln, die Außenminister Ahmet Davutoglu dafür gefunden hat, heißen mal „strategische Tiefe“, mal „null Problem Politik“. Diese Politik umfasst den ganzen Nahen Osten sowie die Länder und Konflikte im Kaukasus. Der jüngste bemerkenswerte Erfolg dieser politischen Strategie war der Ausgleich mit Armenien im Oktober 2009. Auch dieser Erfolg stößt bei nationalistischen Hardlinern in der Türkei auf starken Widerstand. Diese auf Ausgleich angelegte Außenpolitik und die weitere Demokratisierung und Pluralisierung im Inneren entsprechen einander. Ein Sieg der alten Machteliten im innertürkischen Machtkampf würde alte Mauern – auch mit Blick auf die Kurden im Nordirak - wieder erstehen lassen.

Anders als in der Türkei, wo sich die Kurdenfrage wirklich stellt, gibt es in Iran keine Bewegung (von Syrien gar nicht zu sprechen.). Das System bleibt zentralisiert; seit der Unterdrückung kurdischer Forderungen nach der islamischen Revolution 1979 sind keine Schritte in Richtung auf die Gewährung politischer und kultureller Rechte unternommen worden. Im Mittelpunkt der „Kurdenpolitik“ Teherans steht die Unterdrückung tatsächlicher und vermeintlicher oppositioneller Kräfte in Iranisch-Kurdistan. Dabei arbeiten Revolutionswächter und Sicherheitskräfte mit den entsprechenden Kräften in der Türkei zusammen.

Seit dem Ende des Osmanischen Reiches ist die Kurdische Frage stets auch eine Angelegenheit der internationalen Politik gewesen. Das ist auch in der Gegenwart so. Dies in zweifacher Weise: Vordergründig gefährden ethnische Konflikte die Stabilität der gesamten Region, die mit Blick auf die energiewirtschaftlichen Interessen der internationalen Gemeinschaft einen hohen Stellenwert hat. Nicht minder wichtig ist aber eine Lösung des ganz grundsätzlichen Verhältnisses von Recht auf Selbstbestimmung des kurdischen Volkes auf der einen und der territorialen Souveränität der bestehenden Staaten auf der anderen Seite. Die Konflikte im früheren Jugoslawien und insbesondere die Erklärung der Unabhängigkeit des Kossowo lassen die Tragweite des Problems für die internationale Gemeinschaft erkennen.

Wie kann die Forderung nach einem Staat „Kurdistan“ , die im Lauf der letzten Jahrzehnte unter den Kurden immer stärker erhoben wird, mit dem Recht auf Souveränität der nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Staaten (und Irans, dessen Staatlichkeit viel weiter zurückreicht) zu einem Ausgleich gebracht werden? An der Lösung dieser Herausforderung muss die internationale Gemeinschaft teilnehmen: die Vereinten Nationen, die USA und die Europäische Union. Die Zukunft des Irak muss auf einem staatsrechtlichen Status beruhen, der Arabern und Kurden ein Zusammenleben auf der Grundlage ihrer jeweils eigenen Identität ermöglicht. Das kurdische Volk muss in diesem Status erkennen, dass seinen nationalen Aspirationen Rechnung getragen worden ist. Zugleich müssen die Kurden in den Nachbarländern einen Status erhalten, der die Verwirklichung ihrer politischen und kulturellen Rechte garantiert.

Mit Blick auf die Türkei kommt der EU eine Schlüsselrolle zu. Brüssel muss den von Ministerpräsident Erdogan eingeschlagenen Weg einer tief greifenden Demokratisierung des Landes mit Nachdruck unterstützen – gerade auch gegen die Gegner dieses Prozesses. Mit einer Perspektive auf eine Mitgliedschaft in der EU und auf die Verwirklichung aller Rechte einer Minderheit, die in der EU gelten, finden Türken und Kurden eine neue Grundlage eines friedlichen Zusammenlebens.

Daran muss auch Deutschland ein Interesse haben. Ein Viertel der Migranten aus der Türkei sind Kurden. Und in den letzten Jahren liegen die Zahlen der kurdischen Asylbewerber an der Spitze der Statistik In den neunziger Jahren ist der türkisch - kurdische Konflikt gewalttätig auf den Straßen in Deutschland ausgetragen worden. Das hat allen geschadet: die Wahrnehmung von Türken, Kurden und von der Türkei als ganzer in den Augen der deutschen Öffentlichkeit hat sich verdunkelt. Auf der anderen Seite verfügt die deutsche Politik über zahlreiche Beziehungen zu den beteiligten Akteuren, vor allem in der Türkei, aber auch im Nordirak. Die Berliner Regierung muss diese stärker als in der Vergangenheit nutzen, einen Beitrag zur Lösung der „kurdischen Frage“ und damit zur Stabilisierung einer Region zu leisten, die politisch und wirtschaftlich im internationalen System einen hohen Stellenwert hat.

Zum ersten Mal seit dem Untergang des Osmanischen Reiches zeigen sich realistische Ansätze zur Lösung der kurdischen Frage. Es wird auch bei den Kurden selbst liegen, diese zu verwirklichen. Sie setzt die Bereitschaft zu Kompromissen zwischen Vision und Wirklichkeit voraus. Überzogene territoriale und politische Forderungen schaden der kurdischen Sache.