Die islamische Welt und der internationale Terrorismus - August 2003

Veröffentlicht: Dienstag, 26. Februar 2008 18:22

Unter dem Aspekt von Gewaltausübung und Terror hat der islamisch geprägte Raum zwischen Nordafrika und Südostasien einen auffallenden Stellenwert. Dies nicht allein in quantitativer Hinsicht, d.h. durch die Anzahl der Opfer, die sich mit den Gewalttaten verbinden. In dieser Hinsicht wird man vielleicht sogar in Afrika zeitweilig nachhaltigere Gewalttätigkeit konstatieren können. Die Signifikanz der Gewalt mit Blick auf den islamischen Raum rührt vielmehr von der Tatsache, daß diese sich auffallend häufig mit Bezug auf die Religion legitimiert. Hierfür ließen sich zahlreiche Belege finden - hingewiesen werden sollte an dieser Stelle stellvertretend nur auf die Islamische Revolution in Iran, den irakisch-iranischen Krieg 1980 - 88 (zumindest zeitweilig mobilisierte Ayatollah Khomeini die iranischen Soldaten mit der Perspektive, die heiligen Städte Nadschaf und Kerbala im Irak zu befreien), die brutalen Metzeleien algerischer Terroristen seit 1992 sowie - natürlich - das Terrorattentat vom 11. September 2001 gegen World Trade Center und Pentagon. Auch palästinensische Selbstmordattentäter haben die Rechtfertigung und die Motivation zu ihrem Handeln teilweise in religiöser Begründung gesucht. In keinem anderen Religionskreis finden sich ähnlich systematische Versuche und Bemühungen, Politik und „politisch“ ausgerichtete Gewalttätigkeit mit der Religion zu verbinden. (Ansatzweise lassen sich in neuerer Zeit im Hinduismus Elemente von Gewalttätigkeit - vornehmlich gegen Muslime in Indien - finden).

Die Gewalttätigkeit in islamischer Dimension hat sich in der Vergangenheit vornehmlich gegen Muslime gerichtet. Machtkämpfe wurden religiös verbrämt; vor allem aber wurde die Legitimation von Regimen und Systemen aus islamischer Dimension in Frage gestellt. Islamisch motivierte Gewalttätigkeit hatte aber keineswegs ausschließlich eine interne bzw. lokale Dimension. Der schon zitierte irakisch-iranische Krieg ist ein besonders eindringliches Beispiel dafür, daß islamisch motivierte Gewalt durchaus in das internationale System hineinragt. Der Krieg der Islamischen Republik Iran gegen das Regime von Saddam Hussein wurde teilweise propagandistisch zum Kampf gegen als illegitim betrachtete Regime in der islamischen Welt überhaupt gedeutet. Damit berührte er die Stabilität einer Anzahl von Regimen insbesondere im Nahen Osten und ipso facto auch politische und wirtschaftliche Interessen externer Mächte. In letzter Konsequenz war Khomeinis Kampf auf die Befreiung Jerusalems, d.h. die Vernichtung des als illegitim betrachteten Staates Israel gerichtet. Zum Zwecke der Bekämpfung des „zionistischen Gebildes“ wurde darüber hinaus 1982 im Libanon, d.h. an der Grenze Israels, die Hizbollah gegründet, gleichsam eine zweite Front im Kampf gegen als „Abtrünnige“ betrachtete Muslime und den mit ihnen verbundenen Westen, manifestiert im Staat Israel. Indirekt war also islamisch motivierte Gewalttätigkeit in hohem Maße darauf gerichtet, die Machtverhältnisse im internationalen System zu verändern. Der Terroranschlag vom 11. September 2001 in Verbindung mit der ausdrücklichen Zielsetzung, „den Westen“, d.h. vor allem die USA, aus der islamischen Welt zu vertreiben, stellte eine weitere Eskalation islamisch motivierter Gewalt dar.

Islam und Gewalt

Die auffallende Verquickung von Gewalt und Religion im islamischen Bereich wirft naturgemäß die Frage nach Eigentümlichkeiten der Religion und ihrer Beziehung zum politischen Raum auf. Zugleich aber ist nach den Rahmenbedingungen zu fragen, aus denen heraus gerade in neuerer Zeit der Versuch aktuell wird, Religion und religiöse Gewalt zur Veränderung des internationalen Systems zu instrumentalisieren.

Der Ausgangspunkt dieser Entwicklung liegt in dem immer wieder angesprochenen Tatbestand einer schwer auflöslichen Bezogenheit zwischen dem religiösen Glauben auf der einen und dem politischen und gesellschaftlichen Raum auf der anderen Seite. Der Prophet Muhammad verkündete nicht nur eine religiöse Offenbarung, sondern schuf zeitgleich ein Gemeinwesen, das auf von Allah verkündeten Regeln und Prinzipien beruhte. Nicht zufällig ist der Zeitpunkt der Übersiedlung des Propheten und seiner Gemeinde von Mekka nach Medina (hidschra, 622 n. Chr.) der Beginn der islamischen Zeitrechnung. Als Muhammad starb (632), war die gesamte Arabische Halbinsel bereits zur islamischen umma (Gemeinde) geworden. Jenseits der zahlreichen Verwerfungen vor allem stammesbedingter Natur war der Islam durch den Mund seines Verkünders, des Propheten Gottes, eine Grundlage für das Zusammenleben der Menschen geworden. Demgegenüber traten alle bis dahin geltenden Kriterien der sozialen und politischen Zugehörigkeit und Selbstidentifikation zurück. In der Gestalt der Kalifen, d.h. der Nachfolger des Propheten als Führer der umma, verbanden sich politische Führung und die Gewährleistung der Beachtung der von Gott verkündeten Gesetze und ihrer Weiterentwicklung als der Grundlage des islamischen Gemeinwesens. Eine Zweiheit von politischer Macht und geistlicher Zuständigkeit (Kirche) kannte und kennt der Islam - im Prinzip jedenfalls und weithin durch die Geschichte - nicht. Gewiß waren auch im christlichen Raum die weltliche und religiöse Dimension zeitweilig eng beieinander; gleichwohl gab es für imperium und sacerdotium unterschiedliche Zuständigkeiten. Im Verlaufe des Mittelalters traten sie in zum Teil auch militärisch ausgetragene Auseinandersetzungen ein. Schließlich war die grundsätzliche Zweiheit die Voraussetzung dafür, daß sich mit der Neuzeit der säkulare Raum aus der religio, d.h. der „Rückbindung“ an die Transzendenz, lösen konnte - mit allen Folgen, die damit für das geistig-kulturelle, politische und gesellschaftliche Leben im christlich geprägten Raum verbunden waren.

Gegenüber der Zweiheit von weltlicher und religiöser Dimension ist der Islam mit einer Münze vergleichbar; ihre beiden Seiten sind untrennbar aufeinander bezogen und machen ihre Geltung aus. Ohne die Rückbindung an den geoffenbarten Willen Gottes ist gesellschaftliche und politische Existenz ohne Sinn und Grundlage; und ohne die Manifestation des Willens Gottes in der umma fehlt der religiösen Hinwendung die Dimension der Manifestation der göttlichen Existenz, die in der letzten Offenbarung des Willens und Wortes des Einen Gottes an die Menschen gegeben ist. Diesem grundsätzlichen Tatbestand, der sich weitesthin mit dem orthodoxen sunnitischen - wie schiitischen - Islam verbindet, widersprechen auch nicht zahlreiche Modifikationen sowie eigene Wege des Glaubens und der gesellschaftlichen Existenz, wie sie etwa im Raum der islamischen Mystik (Sufismus) beschritten worden sind.

Insbesondere im 20. Jahrhundert sind nachhaltige Bemühungen unternommen worden, die „Medaille“ doch zu spalten und auf diese Weise das Entwicklungsdefizit weiter Teile der islamischen Welt zu überwinden, das muslimische Eliten zwischen Indonesien und Nordafrika der Verquickung von Religion und Politik zuschrieben. Diese Entscheidung, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts vor allem seitens der Islamisten (Fundamentalisten) nachhaltig bekämpft wurde, hat sich zwar in nicht wenigen Ländern in der islamischen Welt behaupten können und bildet bis in die Gegenwart die Grundlage der politischen Ordnungen. Ein gläubiger Muslim mag dies aus praktischen Gründen nachvollziehen; emotional stehen viele Muslime der Säkularität skeptisch bis ablehnend gegenüber. In ihrem persönlichen Leben und in ihrer Gesellschaft versuchen sie, sich soweit an den Gesetzen und Geboten des Islam zu orientieren, wie dies nach Lage der Dinge möglich ist. Die Aufrechterhaltung der Säkularität als der Grundlage des Gemeinwesens ist noch immer das Anliegen von Eliten, die dies im Namen der Staatsräson von oben verordnen und überwachen. Eine - wie etwa in Europa oder Amerika – selbstverständliche Voraussetzung einer politischen Ordnung, innerhalb derer der Mensch mit seinen Rechten seinen Platz findet, den er nicht zuletzt auch gegen die Religion verteidigt, ist dies noch nicht.

Jenseits dieses allgemeinen Tatbestandes sind zwei weitere Aspekte von grundlegender Bedeutung: Zum einen vermittelt der Islam einen - wenn auch allgemeinen - Entwurf vom wünschenswerten Zustand der Gemeinde. Dieser wird in Koran 3, Vers 110 auf den Punkt gebracht. Dort heißt es: „Ihr seid die beste Gemeinde“ (kuntum chaira ummatin). Dies ist nicht allein im Sinn religiöser Perfektion gemeint. Die „beste Gemeinde“ muß auch in ihrer realen gesellschaftlichen und politischen Existenz ihre „Vollkommenheit“ manifestieren. Das von Gott selbst gesprochene vollkommene Wort wird als Aufruf an den Gläubigen verstanden, die Vollkommenheit der Offenbarung auch im Zustand seiner Gemeinde (umma) sichtbar zu machen.

Zum anderen legitimiert die im Koran niedergelegte islamische Offenbarung - wie keine andere heilige Schrift - die Gewalt in der Auseinandersetzung mit einer Umwelt, die sich der Annahme der islamischen Religion verweigert. Der Koran ruft zu vielfältigen Formen der Auseinandersetzung - auch der gewalttätigen - mit Ungläubigen auf. Der Prophet selbst war nicht nur Verkünder des göttlichen Wortes und Gründer einer auf diesem beruhenden Gemeinde, sondern auch Feldherr, namentlich in der Auseinandersetzung mit den Bewohnern von Mekka. Der dschihad ist ein grundlegender Auftrag an die islamische Gemeinde. Es gilt, über den dschihad fi sabil Allah („Die Bemühung auf dem Wege Gottes“), das „Gebiet des Krieges“ (dar al-harb) dem „Gebiet des Islam“ (dar al-Islam) einzugliedern. Der Muslim fühlt sich dazu aufgerufen, den Herrschaftsbereich des islamischen Staates auszudehnen, den Normen der islamischen Gesellschaftsordnung zu universaler Geltung zu verhelfen, die politischen Institutionen des Islam überall in der Welt zu errichten und somit schließlich eine einheitliche Gesellschaft unter islamischem Gottesrecht zu bilden, die alle Menschen umgreift. Der Begriff des „Glaubenszeugen“, der auf „dem Wege Gottes“ fällt (schahid) hat in diesem Zusammenhang eine besondere Signifikanz: Er empfängt mit seinem Glaubenstod die göttliche Belohnung durch den unmittelbaren Eintritt ins Paradies. Der Ungläubige (kafir) ist im Prinzip zu bekämpfen. Dieser Auftrag hat bei islamistischen Ideologen des 20. Jahrhunderts insofern eine besondere Zuspitzung zur Gewalttätigkeit erfahren, als jemanden „zum Ungläubigen zu erklären“ (takfir), die Aufforderung und die Legitimation zur physischen Liquidierung politischer Gegner beinhaltete.

Mit Nachdruck muß an dieser Stelle betont werden, daß vorstehend Ausgeführtes nicht bedeutet, daß der Islam essentiell gewalttätig sei (wie ja auch umgekehrt durchaus nicht gesagt werden kann, daß die Vertreter des Christentums die Gläubigen durchweg zur Gewaltfreiheit im Sinne der Bergpredigt angehalten hätten). Die Geschichte im islamischen Raum ist im Ergebnis und in ihren Erscheinungsformen kaum anders verlaufen als geschichtliche Abläufe in den nicht-islamischen Teilen der Welt. Jenseits aller Ideologisierung und Instrumentalisierung ist der Islam - wie das Christentum auch - zu allererst und wesentlich eine Form religiöser Sinngebung für die menschliche Existenz gewesen. Allerdings wird es dem Muslim geradezu aufgedrängt, den Zustand und die Erscheinungsform der vom Islam geprägten Gemeinde mit seiner Religion in Verbindung zu bringen. Namentlich die Frage, warum der Zustand der islamischen Welt seit Jahrhunderten - und in besonderer Auffälligkeit im 20. Jahrhundert - dem Westen so deutlich unterlegen und die Entwicklungstendenzen über die vergangenen Jahrhunderte abwärts gerichtet waren, ist dann auch eine Frage an die Religion: Ist mit Bezug auf sie von den Gläubigen etwas falsch gemacht worden?

Was lief falsch?

Die Geschichte der islamischen Welt in den letzten zwei Jahrhunderten ist weithin eine Geschichte von Bemühungen unter den Muslimen, den Islam - dies sowohl religiös-theologisch als auch mit Bezug auf den „Westen“ als einer politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Macht - zu erneuern. Die Antworten auf die den Muslimen und dem muslimischen Gemeinwesen gestellten Herausforderungen sind im Verlaufe der Geschichte vielfältig gewesen. Die Auseinandersetzung beinhaltete auch - wenn auch als Randerscheinung - eine Komponente der Gewalttätigkeit. Das gilt für die wahhabitische Bewegung, die etwa Mitte des 18. Jahrhunderts im heutigen Saudi-Arabien zur Macht kam. Der Führungsanspruch der Familie Sa‘ud verband sich mit einer extrem konservativen Interpretation des Islam, die von dem Theologen Muhammad ibn Abd al-Wahhab (1703-92) ausging. Diese Entwicklung war nicht zuletzt eine Reaktion auf das Eindringen westlicher „Neuerungen“ (bida‘; Singular bid’a) in den religiös-politischen Körper des Osmanischen Reiches, das seit dem Ende des 17. Jahrhunderts unübersehbare Anzeichen innerer und äußerer Schwächen zeigte. In unterschiedlicher Ausprägung hat sich die wahhabitische Bewegung bis in die Gegenwart erhalten. Der Export eines konservativen Islam hatte zum Ziel, westlichen Einfluß fernzuhalten und die islamische Welt im Zeichen eines konservativen Islamverständnisses zu stärken. Seit Anfang der 70er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts konnte sich der Wahhabismus auf erhebliche finanzielle Ressourcen aus dem Verkauf von Erdöl und Erdgas stützen; die Virulenz traditionalistischer und im wesentlichen antiwestlicher Bewegungen in weitesten Teilen der islamischen Welt ist ohne erhebliche Zuwendungen seitens islamisch-konservativer Kreise auf der Arabischen Halbinsel kaum zu verstehen. Auch der islamische Widerstand gegen die sowjetische Invasion in Afghanistan (1979-1989), innerhalb derer der einer reichen Familie in Saudi-Arabien entstammende Usama bin Ladin eine wichtige Rolle spielte, ist aus wahhabitischem Milieu finanziell unterstützt worden.

Der Islam enthielt also nahezu von dem Zeitpunkt seiner Verkündigung an eine politische Komponente; dergestalt, daß er Grundlage eines Gemeinwesens war, dessen Erscheinungsform und politische Entwicklung sich wesentlich an der göttlichen Offenbarung orientierte. Wenn damit im Kontext der Geschichte der islamischen Gesellschaften keineswegs eine Gleichstellung von Islam und Gewalt hergestellt werden kann, so kann doch verständlich gemacht werden, daß Gewalt im Lichte der Auseinandersetzung mit einem als feindselig angesehen „Westen“ von einer Minderheit als Reaktion instrumentalisiert und legitimiert werden kann, wenn die Rahmenbedingungen und der reale Zustand der vom Islam geprägten Gemeinwesen dem Ideal, das aus dem Koran selbst abgeleitet wird, nicht mehr entsprechen. Wo Ideal und Wirklichkeit - und dies ist wesentlich eine Frage der Wahrnehmung -auseinanderzuklaffen scheinen, können Elemente der Verkündigung und der geschichtlichen Entwicklung der islamischen Gemeinde instrumentalisiert werden, auch eine gewalttätige Aktion zu rechtfertigen, die das Ziel hat, den Status der islamischen Welt im internationalen System wieder dem wahrgenommenen Ideal entsprechen zu lassen.

Über die Rechtfertigung von Gewalt aus der religiösen Begrifflichkeit hinaus kann auch die Wahrnehmung der Geschichte der Auseinandersetzung zwischen der islamischen Welt und dem Westen in den vergangenen Jahrhunderten als Argument zur Rechtfertigung von Gewalttaten herangezogen werden. Tatsächlich hat die Erfahrung von Gewalttätigkeit das Verhältnis zwischen der islamischen Welt und dem Westen in den vergangenen zweieinhalb Jahrhunderten in hohem Maße geprägt. Mit dem Niedergang des Osmanischen Reiches im 18. Jahrhundert begann die schrittweise Unterwerfung der islamischen Welt durch die europäischen imperialen Mächte. Die napoleonische Expedition (1798) kann symbolisch als der Beginn der Expansion europäischer Macht gegenüber Muslimen in der näheren und weiteren Nachbarschaft Europas in allen Facetten von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur verstanden werden. Systematisch wurde das Osmanische Reich reduziert; daß sich der Niedergang so lange hinzog, war wesentlich der Tatsache zuzuschreiben, daß sich die europäischen Mächte auf seine Beerbung nicht verständigen konnten. Einem Friedens- oder Waffenstillstandsvertrag folgte der Ausbruch erneuter bewaffneter Auseinandersetzungen nach europäischem Gutdünken. Nordafrika sowie der Nahe und Mittlere Osten wurden der europäischen politischen und wirtschaftlichen Zukunftsplanung unterworfen. 1830 besetzte Frankreich Algerien - um es schließlich als „Algérie française“ zum Teil des französischen Mutterlandes zu machen. Nach 1892 verfestigte sich die britische Herrschaft über Ägypten - nicht zuletzt mit Blick auf die Kontrolle des Suez-Kanals im Kontext britischer Interessen auf dem indischen Subkontinent. Das grüne Licht aus London für die Schaffung einer „jüdischen Heimstätte“ in Palästina (1917) war ein weiterer symptomatischer Schachzug, die Kontrolle über die Region zu verfestigen.

Diese wurde um so wichtiger, je nachhaltiger nach den ersten Ölfunden und Abschlüssen von Verträgen über Ausbeutung und Vertrieb des Erdöls der Nahe Osten zu einer primären Interessenregion europäischer Mächte geworden war. Großbritannien und Frankreich - auch Rußland kann mit Blick auf die Behandlung der muslimischen Völker in Zentralasien und dem Kaukasus nicht außer Acht gelassen werden - hatten sich 1916 die Einflußzonen aufgeteilt; und sie setzten diesen Einfluß in immer neuen Formen der Einmischung in die Politik der formell unabhängig werdenden Länder durch. Dauernde Manipulation und anhaltende - auch militärische - Einmischung waren die Folge. 1948 entstand der Staat Israel; von den Menschen im Nahen Osten wahrgenommen als Ergebnis europäischer Gewalttätigkeit vergangener Jahrzehnte. Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges traten die USA als dominierende Macht in die Politik in den und um den Nahen Osten als Nachfolger der europäischen Mächte in Erscheinung. Bezeichnend war, daß die gewalttätige Einmischung Großbritanniens und Frankreichs in Ägypten im Jahr 1956 mit dem Ziel, die Verstaatlichung des Suez-Kanals rückgängig zu machen, nicht zuletzt am amerikanischen Widerstand scheiterte. Danach aber übte Washington eine weitreichende Kontrolle über die Region aus. Ziel war es, zu verhindern, daß eine verstärkte Einflußnahme Moskaus die globale Machtbalance gefährden würde. Zunehmend wurden die USA als Macht gesehen, die dem Freiheits- und Entwicklungsdrang der islamischen Völker im Nahen Osten und darüber hinaus im Wege stand.

Die Entwicklungen in den 90er Jahren haben insbesondere im Nahen Osten Gefühle der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins an äußere Mächte verstärkt. Dies gilt insbesondere für den Friedensprozeß nach 1993 im Hinblick auf die Palästinenser und zahlreiche Araber außerhalb Palästinas. Die fortgesetzte israelische Siedlungspolitik und Landnahme; die anhaltenden Schikanen gegenüber der palästinensischen Bevölkerung und die Weigerung der internationalen Gemeinschaft insgesamt, sich für eine „gerechte“ Lösung mit Nachdruck einzusetzen, haben weithin den Eindruck einer Verschwörung gegen „die Araber“ hervorgerufen.

Diese Entwicklungen haben geradezu dramatisch den Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit und insbesondere - ganz konkret - die Tatsache bestätigt, daß die islamische Welt im politischen Kalkül internationaler Mächte weit unten rangiert. Das diffuse Gefühl von Bedeutungslosigkeit und Bedrohung, das schließlich in einer extremistischen Minderheit Gewalttätigkeit generiert, die aus islamischer Begrifflichkeit heraus mobilisiert wird, hat einer der mutmaßlichen Drahtzieher des gegen Touristen auf Bali verübten Attentats (12.10.2002) folgendermaßen artikuliert: „Ich wollte den Heiligen Krieg führen als Rache für die weltweite Ungerechtigkeit gegenüber Muslimen“. (Die Zeit (Hamburg), 9.1.2003, S. 6)

Das Gefühl, einer „ungerechten“ Ordnung, die mit muslimischem Selbstgefühl unvereinbar ist, ausgesetzt zu sein, vermag in der Gegenwart zahlreiche Muslime in allen Teilen der islamischen Welt zu mobilisieren. Überhaupt darf wohl festgestellt werden, daß der Islam nach dem weitgehenden Niedergang des Kommunismus die einzige geistige Kraft ist, die weltweit Menschen zu mobilisieren vermag. Dies nicht im Sinne einer „grünen Gefahr“, einer geschlossenen Erhebung von Muslimen zwischen Indonesien und dem Maghreb gegen „den Westen“; sondern als Sensibilität, die Menschen über bestimmte Dinge und Entwicklungen betroffen macht. Dazu gehört in erste Linie der Palästinakonflikt. War schon die Staatsgründung Israels kaum akzeptabel, da sie unverhohlen deutlich machte, daß in der Geschichte der Araber im zwanzigsten Jahrhundert etwas „falsch gelaufen“ war, so wird das anhaltende Ausbleiben einer gerechten Lösung für die politische Existenz der Palästinenser als ein stets erneuerter „Beweis“ dafür wahrgenommen, daß die Palästinenser - und in Erweiterung dieses Gefühls die Muslime - bis heute nur Objekt der Interessenkalküle anderer, überlegener Mächte, sind. Die im September 2000 ausgebrochene Gewalttätigkeit, die als Antwort auf palästinensischen Terrorismus in die Verwüstung und Zerstörung weiter Teile der Westbank und des Gazastreifens einmündete, und der Umstand, daß Israel ohne Druck von außen Resolutionen des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen ignoriert, ist eine ständige schmerzhafte Erinnerung an die Realitäten des internationalen Systems. Weitere offene Konflikte - etwa Tschetschenien oder Kaschmir - wirken in die gleiche Richtung. Und überhaupt – die Art und Weise, wie „der Westen“, insbesondere die USA, die internationale Politik und die Weltwirtschaft nach ihren Interessen dominieren, macht weite Teile der muslimischen Öffentlichkeit betroffen über den Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit. Die „Betroffenheit“ artikuliert sich auf vielfältige und unterschiedliche Weise. Im Extrem führt sie - wie angedeutet - zu islamistisch motivierter Gewalttätigkeit.

Der Anfang der 70er Jahre hereinbrechende Petrodollarsegen hat es ölreichen arabischen Regierungen und Individuen ermöglicht, über „fromme Stiftungen“ und finanzielle Kanäle anderer Art ihren Beitrag zu leisten, denjenigen materielle Hilfestellung zu gewähren, die sich anheischig machten, sich gegen „die weltweite Ungerechtigkeit“ gegenüber der islamischen Welt aufzulehnen. Das Spektrum der auf diese Weise finanzierten Aktivitäten reichte von der Unterstützung humanitärer Organisationen und Zielsetzungen bis zur Beschaffung von Waffen und der logistischen Unterstützung des bewaffneten Kampfes. Die Masse der Muslime – vor allem im Nahen Osten - freilich hat die Betroffenheit zu Anhängern der Verschwörungstheorie werden lassen; danach ist alles, was die islamische Welt in ihrer Wahrnehmung negativ betrifft, Teil einer gegen sie von westlichen Mächten ausgehenden Konspiration.

Paradigmenwechsel - vom Säkularismus zum Islamismus

Islamistisch motivierte Gewalttätigkeit wie der Terrorakt vom 11. September 2001 ist ein relativ junges Phänomen in der islamischen Welt. Historisch gesehen geht es einher mit dem Prozeß einer nachlassenden Faszination über dem Westen entlehnte Entwicklungsparadigmen und Ideologien. Diese hatten nach dem Ersten Weltkrieg Konjunktur, als die Nachahmung des Westens als der Königsweg erschien, den Entwicklungsrückstand aufzuholen und die nunmehr in weiten Teilen der islamischen Welt ausgeübte Unterdrückung und Kolonisierung abzuschütteln. Grundanliegen wurde die Säkularisierung; man suchte den Islam aus Politik und Gesellschaft zu verdrängen, schien er doch einer umfassenden Modernisierung im Wege zu stehen. Modernisierung wurde zugleich als Verwestlichung im Sinne einer weitgehenden Übernahme westlicher Ideologien verstanden. In besonderer Radikalität wurde die Säkularisierung in der Türkei vom Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk betrieben. Er fand - mutatis mutandis – Nachahmer in weiten Teilen der arabischen Welt, in Iran, Südasien und Südostasien. Seit Anfang der 70er Jahre kamen die Säkularisierungsbestrebungen und ihre Protagonisten unter wachsenden Druck. Die Gegenkräfte der Islamisierung, die sich über Jahrzehnte im Hintergrund gehalten bzw. ein Schattendasein gefristet hatten, begannen, sich nunmehr offen politisch zu artikulieren. Der bereits angesprochene Petrodollarsegen bildete eine willkommene und zur Unterstützung politischer Aktivitäten notwendige materielle Basis. Der Druck auf die säkularen Strukturen, die allenthalben in der islamischen Welt entstanden, hält bis heute an: Er hat - wie jüngste Entwicklungen zeigen – selbst die Türkei aber auch südostasiatische Länder wie Malaysia und Indonesien erfaßt.

Die Ursache dieser Entwicklung liegt auf der Hand. In weiten Teilen der islamischen Welt war es den säkularisierenden Eliten nicht gelungen, die Entwicklungsprobleme, zu deren Lösung sie angetreten waren, zu bewältigen. Dies gilt für die inneren Probleme vornehmlich wirtschaftlicher und sozialer Natur - bis heute weist der „Entwicklungsweg“ eher weiterhin nach unten. Dies gilt aber auch für den Anspruch, ihren Staaten und Gesellschaften im internationalen Kontext wieder einen Status zu verleihen, der islamisch begründeter Selbstauffassung auch nur annähernd entsprochen hätte. Am einschneidendsten wurde das Scheitern der säkularisierenden Eliten im arabischen Raum empfunden: Die militärische Niederlage der Armeen dreier arabischer Staaten im Junikrieg 1967 machte dramatisch deutlich, welcher Abstand zwischen einem „westlichen“ Land (Israel) und arabischen politischen Systemen bestand, die sich der Verwestlichung verschrieben hatten, ohne sie wirklich zu verinnerlichen und einen entscheidenden Entwicklungssprung machen zu können. Die Säkularisierung, d.h. die Ausblendung des Islam aus der politischen und gesellschaftlichen Existenz eines Muslims und muslimischer Gesellschaften erschien nachgerade als ein Holzweg, der sich nur immer tiefer ohne Ausweg im Dickicht der inneren und äußeren Entwicklungsprobleme verlor. Damit war ein jäher Verfall der Legitimität der Machteliten und ihrer politischen Konzepte verbunden. Mehr noch - auch das Konzept des Staates als Nationalstaates im Sinne des Akteurs in der Staatengemeinschaft kam unter Druck. Säkularismus und Nationalismus schienen die islamische Welt nur derart weiter geschwächt zu haben, als der nunmehr einzelstaatliche Akteur mit den Konflikten zwischen den Eliten, ihren Interessendivergenzen und Machtrivalitäten die Position der islamischen Welt weiter zu unterminieren schien.

Fast zwangsläufig trat der Islam als politische und gesellschaftliche Alternative wieder in das Erscheinungsbild. Nach Jahrzehnten einer politischen und gesellschaftlichen Existenz im Schatten säkularer politischer und gesellschaftlicher Kräfte gewann das Argument an Überzeugungskraft, daß die umfassende Stagnation im islamisch geprägten Raum und die politische Bedeutungslosigkeit im internationalen System der Tatsache zuzuschreiben seien, daß der Islam als politischer, gesellschaftlicher und kulturpolitischer Mobilisierungsfaktor ausgeblendet worden sei. Die Islamisten suchten und fanden Gehör mit ihrer These, daß die Errichtung einer „islamischen Ordnung“ anstelle der säkularen Systeme die Voraussetzung für eine nachhaltige Entwicklung der islamischen Welt und für eine Neuordnung der internationalen Ordnung sein würde, in der die islamische Welt jenen Stellenwert zurückgewinnen würde, der der „Gemeinde Gottes“ zukomme. Der Blick auf die Geschichte der islamischen Welt schien diese Anschauung zu untermauern: Hatte die „Gemeinde Gottes“ doch eine unwiderstehliche Ausbreitung erreicht, solange Staat und Gesellschaft auf dem Wort Gottes und dem aus ihm abgeleiteten Recht beruhten.

Das Streben nach einer umfassenden Veränderung sollte wieder von islamischen Prinzipien bestimmt und geleitet sein. Die Umkehr von Paradigmen der Entwicklung vom Säkularismus zum Islamismus fiel mit tiefgreifenden Veränderungen im Bereich der Gestaltung von Förderung und Vermarktung von Erdöl und Erdgas zusammen. Die Anfang der 70er Jahre einsetzende Nationalisierung der Erdölförderung durch die Förderstaaten selbst gab diesen einen größeren Handlungsspielraum bei der Preisgestaltung und der Erdölpolitik als ganzer als dies angesichts einer weitestgehenden Abhängigkeit von den internationalen Erdölunternehmen in den Jahrzehnten zuvor möglich gewesen war. Die Anfang der 70er Jahre expandierenden Preise schwemmten fabelhaften Reichtum in die Gesellschaften erdöl- und erdgasproduzierender Länder. 1986 - auf dem Scheitelpunkt der Entwicklung -betrug das Pro-Kopf-Einkommen Saudi-Arabiens ca. 18.000 Dollar. Der neue Reichtum einzelner Persönlichkeiten, aber insbesondere der Regierungen auf der Arabischen Halbinsel und Libyens, die - bei allen Unterschieden - einem konservativen Islam anhingen, gab diesen die Möglichkeit, islamistischen Aktivitäten, die auf die Verbreitung des konservativen Islam bis hin zu Errichtung von auf diesem beruhenden Regierungssystemen gerichtet waren, breite finanzielle Unterstützung zu gewähren. Finanziell ausgestattet wurden darüber hinaus wohltätige Organisationen, die die Anliegen von Muslimen welcher Art immer zu vertreten und zu fördern schienen. Islamistische Bewegungen, die bestrebt waren, das säkularistische Entwicklungsparadigma abzulösen, wurden vor diesem Hintergrund bei ihren Bemühungen um Verwirklichung ihrer Ziele auf eine solide finanzielle Basis gestellt. Hinzu kommt schließlich, daß auch eine Reihe arabischer Regime ihrerseits konservative islamische Strömungen in ihrer Auseinandersetzung mit linken politischen Kräften, besonders den Kommunisten, zu instrumentalisieren suchten. Dies war nicht zuletzt in Ägypten unter Präsident Anwar as-Sadat der Fall, der 1971 dem charismatischen arabisch-nationalistischen Führer Gamal Abdel Nasser nachfolgte. Die Ermordung des ägyptischen Religionsministers Muhammad adh-Dhahabi im Juli 1977 durch eine Organisation, die sich „at-Takfir wa al-Higra“ nannte, erscheint im Rückblick als ein Menetekel für die islamistische Mobilisierung auf breiter Front, die bestehenden Regime zu stürzen und durch die Errichtung einer „islamischen Ordnung“ abzulösen.

Dies geschah dann auch dramatisch an einem Punkt, wo es noch Mitte der 70er Jahre die wenigsten erwartet hätten: in Iran. Das Regime des Schahs schien fest im Sattel zu sitzen, unterstützt durch die USA, und weithin respektiert im Westen. Mit Blick auf das „containment“ gegenüber der Sowjetunion kam dem Schah eine wichtige Rolle zu; im übrigen wurde das Land als in einem dynamischen Entwicklungszustand befindlich wahrgenommen. Der Schah schien die Mullahs im Zaum zu halten und ein säkularistisch geprägtes Entwicklungskonzept zu verfolgen. Dies auf der Basis von seit 1971 erheblich gestiegenen Einnahmen zur Finanzierung seiner Entwicklungsprogramme. Als schiitisch geprägtes Land schien Iran darüber hinaus von den Entwicklungen im sunnitischen Islam relativ abgeschottet.
Tatsächlich war die Revolution in Iran ein Unikum, das aus den Eigenheiten des schiitischen Islam, dem 90 % der Bevölkerung angehören, zu erklären ist. Darauf kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Anders als im Bereich des sunnitischen Islam waren es nicht einzelne Gruppen oder Gesellschaftsschichten, die sich einem politischen Islamismus zuwandten und die dem Regime den Krieg erklärten. Es waren vielmehr große Teile der Geistlichkeit, die in Iran seit jeher im Zentrum des gesellschaftlichen Kräftefeldes steht. Sie vermochten breiteste Teile der Öffentlichkeit gegen ein Regime zu mobilisieren, das iranische Interessen an den Westen ausverkauft zu haben schien. Im Hintergrund zunächst, später als Revolutionsführer, hatte Ayatollah Khomeini ein politisches Programm geschmiedet, das aus der jahrhundertelang quietistischen Schi’a eine revolutionäre Bewegung im Namen des verborgenen Messias, des zwölften Imam, der am Ende der Zeiten kommen und eine auf islamischer Grundlage legitimierte Herrschaft gründen würde, machte. Nirgendwo im sunnitischen Bereich war die Islamisierung so tief und mobilisierend ins Zentrum der Gesellschaft gedrungen. Sie blieb - in Ländern, in denen islamistischer Terror zahlreiche Menschenleben forderte und jahrelang von sich reden machte - ein Phänomen, das keine dauerhaften Veränderungen zeitigte.

Die Mobilisierung der umma

Als erfolgreiche Protestbewegung breitester Teile der Massen, also als Bewegung von unten, hat die Revolution in Iran ipso facto welthistorische Bedeutung. Im Kontext der politischen Entwicklungsprozesse in der islamischen Welt im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts bedeutet sie einen dramatischen Paradigmenwechsel. Nicht mehr herkömmliche politische Führungseliten sind die entscheidenden Gestaltungskräfte politischer Entwicklung. Die Umgestaltung geht vielmehr von unten aus; die „Massen“ werden zum Akteur. Dem nachhaltigen Verlust an Legitimität der Herrschenden, die sich unfähig gezeigt haben, die politischen, entwicklungspolitischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen etc. Anliegen der Bürger wirksam zu vertreten, tritt die Gesellschaft (umma) gegenüber. Sie wird zum legitimen Akteur für die als essentiell wahrgenommenen Angelegenheiten und Interessen der islamischen „Nation“. Die Revolution ist von den „Unterdrückten“ (mustaz‘afan) für die Unterdrückten gemacht; deren Anliegen werden nicht mehr von Eliten ignoriert, die aufgrund ihrer Bindungen und Interessen mit dem Westen paktieren und damit die wirklichen Anliegen der umma anhaltend „verraten“. Ein solcher Paradigmenwechsel der politischen Umgestaltung von den herkömmlichen politischen Eliten zur umma bedeutet zugleich eine radikale Wendung gegen den Westen.

Die Selbstbefreiung der umma im Namen des Islam mit Blick auf eine umfassende Entwicklung der islamischen Welt im Rahmen islamisch geprägter Ordnungen enthält mithin eine internationale Dimension. Sie muß nahezu zwangsläufig mit dem Westen und den von ihm verkündeten und „exportierten“ politischen Wertvorstellungen - unter anderem auf Säkularisierung beruhender Demokratie und Menschenrechten - in Konflikt geraten. Im islamistischen Kontext beinhaltet dies zugleich auch den Autoritätsverlust des Staates, oder genauer: des Nationalstaates als eines Prinzips der internationalen Ordnung, welches ebenfalls in der Entwicklung des politischen Denkens im Westen während der letzten Jahrhunderte seine Wurzeln hat. Das Prinzip des Nationalstaates erscheint aus der Perspektive der umma als ein Instrument, diese zu spalten und von ihrer eigentlichen Kraft als Religion der Massen zu entfremden.

Ohnehin hat in der islamischen Welt bis weit ins 19. Jahrhundert hinein die Vorstellung von der „Nation“ als einer Staatlichkeit konstituierenden Größe wenig Popularität erfahren. Die mit der Auswanderung aus Mekka (622) erfolgte Gründung des islamischen Gemeinwesens in Medina bedeutete zugleich die Schaffung einer neuen „Nation“, der „Nation der Muslime“, beruhend auf der göttlichen Offenbarung, verkündet durch den Propheten Muhammad. Zwar haben sich in der politischen Wirklichkeit sehr bald auch regional und ethnisch bestimmte Staaten herausgebildet; doch haben sich diese niemals als „Nationen“ unabhängig vom religiösen Kontext – ja gegen diesen – verstanden. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand mit dem – zunächst von arabischen Christen formulierten – arabischen Nationalismus eine Bewegung, in der im Verlauf der folgenden Jahrzehnte ethnisch-kulturelle Eigentümlichkeit zum Prinzip einer auch entsprechenden staatlichen Erscheinungsform wurde. Für weite Teile der islamischen Welt in Nordafrika, im Nahen und Mittleren Osten bestand nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und der Abschaffung des Kalifats im März 1924 die Notwendigkeit, sich einem neuen staatlichen Ordnungsprinzip zu unterwerfen; zahlreichen Völkern in diesen Regionen ist dies nur schwer und bis heute zum Teil unvollkommen gelungen.

Das Versagen der säkularistischen Eliten und fehlende Legitimation der Nationalstaaten gehen in den Augen der Islamisten einher. Der Nationalstaat würde der Wiedereinsetzung des Konzepts der umma Platz machen müssen. Die Massen der Muslime würden aus ihrer „nationalstaatlichen“ Einengung und Separierung befreit und wieder in eine gemeinsame Bewegung zusammengeführt werden müssen. Die Legitimität des Handelns, die dem Nationalstaat und den diesen regierenden politischen Eliten abhanden gekommen sei, würde wiederum bei den Massen bzw. der aus ihnen hervorwachsenden Führung liegen. Die islamischen Massen selbst würden politischem und gesellschaftlichem Handeln erst wieder Legitimität verleihen.

Mit dieser Verlagerung von Verantwortung mit Blick auf die Geschicke der islamischen Welt - vor allem bezogen auf den Westen - würden Anspruch und Aufruf des Korans „Ihr seid die beste Gemeinde“ wieder neue Dynamik erhalten. Die Verantwortung für die Zukunft der islamischen Welt verlagert sich von Staaten und Regierungen auf die Massen, die sich zu einem „den Westen“ herausfordernden Machtblock zusammenschließen und vernetzen würden. Die Verwirklichung der „besten Gemeinde“ wäre auf den Weg gebracht, nachdem die Hindernisse, die weitgehend in der Hinnahme westlicher Einflüsse, Wertvorstellungen und politischer Organisationsformen gegeben waren, aus dem Wege geschafft worden wären.

Vor diesem Hintergrund wird auch die Wahrnehmung der globalen Situation als ganzer „islamisiert“. Sie erscheint als bedrohlich, unakzeptabel - man fühlt sich unterlegen, drangsaliert und den Interessen (nicht zuletzt Ölinteressen) auswärtiger Mächte ausgeliefert. Das Gefühl der Unterlegenheit artikuliert sich als Unbehagen vor der bzw. als Abwehrhaltung gegen die „Globalisierung“. Diese erscheint als eine neue Strategie zur Verwirklichung einer alten Zielsetzung des Westens, nämlich der Kolonisierung im Rahmen strategischer bzw. rohstoffpolitischer Interessen. Aus gleichsam „islamischen“ Instinkten heraus wird abgewehrt, was aus „dem Westen“ kommt. Globalisierung verbindet sich mit der Projektion von Macht von Seiten eines Stärkeren, vor allem der USA gegen die als schwächer wahrgenommene islamische umma. Der tiefsitzende Inferioritätskomplex läßt die Globalisierung als um so suspekter erscheinen, als Israel unübersehbar zu den Gewinnern der Globalisierung gehört. Teil des Westens und enger Partner der USA, vermittelt der Staat Israel weiten Teilen der arabischen und muslimischen Welt das Gefühl, von der Moderne ausgeschlossen zu sein. Vor diesem Hintergrund wird Globalisierung gleichgesetzt mit Amerikanisierung und israelischer Dominanz.

Gewalthafte Herausforderung des Westens

Diese an sich schon spannungsvolle Ausgangslage verschärft sich vor dem Hintergrund der Wahrnehmung der Beziehung zwischen den Mächten im Westen und der islamischen Welt in den letzten Jahrhunderten als vornehmlich einer Beziehung von gewalthafter Qualität. Als ein signifikantes Datum in diesem Zusammenhang könnte 1798 gesehen werden, das Jahr der Napoleonischen Expedition. Mit ihr beginnt die systematische imperialistische Einordnung Nordafrikas und des Nahen und Mittleren Ostens in den politischen Orbit europäischer Mächte. 1830 besetzt Frankreich Algerien, das es schließlich als Teil des Mutterlandes verwaltet, bis dieses sich nach einem von beiden Seiten brutal geführten Befreiungskrieg (1954-62) von Frankreich losreißt. Die Öffnung des Suez-Kanals (1869) läßt die Region zum Bestandteil der strategischen Planungen, insbesondere Großbritanniens mit Blick auf dessen Interessen auf dem indischen Subkontinent, werden. Nach 1882 übernimmt Großbritannien weithin die Verwaltung Ägyptens. Während des Ersten Weltkrieges teilen sich Großbritannien und Frankreich die Herrschaftsdomänen im Nahen und Mittleren Osten auf. Die Landnahme durch die zionistische Bewegung, die in den 20er Jahren auf militanten arabischen (palästinensischen) Widerstand stößt, wird als Siegel dieser gewalthaften Qualität in den Beziehungen zwischen Europa und dem vorderasiatischen Orient wahrgenommen. In seinem ersten Video hat Usama Bin Ladin diesbezügliche Erinnerungen evoziert, als er von einer „Demütigung seit beinahe 80 Jahren“ sprach. In den Augen derer, auf die er damit zielte, wird damit die Erinnerung an die Vernichtung des Osmanischen Reiches, die Aufteilung des Nahen und Mittleren Ostens zwischen europäischen Mächten, die sich beschleunigende zionistische Besiedlung Palästinas und ein wachsendes Interesse europäischer Mächte an den Erdölressourcen der Region wachgerufen. Lichtjahre ist die Realität der islamischen Welt - dies weit über den Nahen und Mittleren Osten hinaus – von jenem „Ihr seid die beste Gemeinde“ entfernt.

Auch die 90er Jahre waren durch Gewalttätigkeit gekennzeichnet. Sie beginnen bei der Vertreibung des irakischen Diktators aus Kuwait; ein großer Teil der Anti-Terror-Koalition operierte von saudischem Boden (auf dem auch die heiligen Städte Mekka und Medina liegen) aus. Die Präsenz der „Ungläubigen“ auf „islamischem“ Boden hat gläubige Muslime schockiert. Auf dem Balkan schienen für einen Augenblick die muslimischen Bosniaken Opfer serbischer und kroatischer Brutalitäten. (Die Tatsache, daß die Bosniaken schließlich durch ein westliches Bündnis gerettet wurden, wird demgegenüber kaum wahrgenommen.) Schließlich haben die Entwicklungen in Palästina in den 90er Jahren in den Augen kritischer Muslime das Bild eines gewalttätig Westens bzw. eines Westens, der unter Anwendung doppelter Standards Gewalttätigkeit toleriert, bestätigt. Die Fortsetzung der Besiedlung in Palästina trotz eines „Friedensprozesses“, die unausgesetzten Schikanen der israelischen Militärs in den besetzten Gebieten sowie schließlich die von arabischen Sendern weitesthin verbreiteten Bilder der brutalen israelischen Antwort auf die Terrorattentate haben die Stimmung verschärft. Der Aufmarsch am Persischen Golf schließlich, gerichtet auf einen gewalthaften Regimewandel in Bagdad, hat im arabischen Raum und darüber hinaus in weiten Teilen der islamischen Welt Irritationen und Zorn hervorgerufen; die Frage wurde laut, was denn eigentlich die Agenda der USA im Kontext des „Kampfes gegen den Terrorismus“ sei. Immer wieder wurde dabei die Antwort gehört, es gehe eigentlich um einen „Kampf gegen den Islam“.

In der Lesart extremistischer Musline wird aus dieser Wahrnehmung die Rechtmäßigkeit von Gegengewalt abgeleitet. Koranverse sowie Beispiele aus der islamischen Geschichte sollen die Gläubigen mobilisieren, den Kampf gegen „die Kreuzfahrer“ aufzunehmen. Das Paradigma des dschihad als eines legitimen Abwehrkampfes der islamischen umma wird dabei beschworen.

Signifikant ist die Rolle der aus der umma erwachsenden Führerschaft. Ayatollah Khomeini mobilisierte eine Revolution von unten, indem er über die Netzwerke der Moscheen und der theologischen Ausbildungsstätten die Massen ansprach. Im Verlauf des Revolutionsjahres 1978 brachte er Millionen von Menschen auf die Straßen, insbesondere in Teheran. Die Masse von ihnen kam aus jenen Teilen der Stadt, in denen die ärmeren und unteren Schichten der Bevölkerung zu Millionen unter schwierigen Lebensbedingungen leben. Zugleich aber war Khomeini Staatsmann. Als „Führer“ (rahbar) verkörperte er das islamische Staatswesen gemäß § 5 der nach dem Sieg der Revolution von ihm mitgeschaffenen Verfassung (das Prinzip der „Herrschaft des anerkannten Gottesgelehrten“, vilayat-e faqih). Er führte die iranischen Soldaten im Krieg, der von Saddam Hussein im Herbst 1980 angezettelt worden war. In diesem „aufgezwungenen Krieg“ (dschang-e tahmili) spielte die klassische Armee eine eher nachgeordnete Rolle. Immer mehr traten die nach der Revolution geschaffenen „Revolutionsgarden“ (pasdaran) hervor. Daneben operierten die Milizen der basidschi, vornehmlich Männer im jugendlichen Alter, welche zum Teil die Schmutzarbeit des Kampfes zu tragen hatten. Im Laufe des Krieges traten nach erfolgter Selbstverteidigung (1982) die Züge eines Exports der Islamischen Revolution in die benachbarte islamische Welt immer stärker hervor. Das Motto, das in (schiitisch)-islamischer Symbolik eindringlich die Botschaft und Ziele des Krieges zusammenfasste, lautete: „Der Weg nach Jerusalem geht über Kerbela“. Kerbela ist eines der beiden bedeutendsten Heiligtümer der Schiiten – südöstlich von Bagdad gelegen. In Khomeinis Verständnis war dieses Heiligtum besetzt und entweiht von dem „gottlosen“ Saddam Hussein; dessen Beseitigung würde - in der Symbolik des Heiligtums -  die irakischen Muslime befreien. Zugleich war damit ausgesagt, daß Kerbela überall in der islamischen Welt sei: Pseudo-islamische Führer, „Lakaien des Westens“, unterwerfen die Gläubigen der umma; und so gilt es, wie Saddam Hussein auch, jene dem Unglauben verfallenen Führer zu beseitigen – von Nordafrika bis an den Persischen Golf. Unter Führung Khomeinis (was er freilich so deutlich nicht offen sagte) würde die umma von ihren inneren Feinden befreit; damit würde sie eine neue Schlagkraft erhalten, sich gegen ihre äußeren Feinde zu behaupten. Die befreite islamische Welt würde nun nach al-Quds (Jerusalem) ziehen, um in der Rückgewinnung der Heiligen Stadt die Befreiung von den äußeren Feinden zu symbolisieren: den „Zionisten“ und Amerikanern. Khomeini sah sich also in einer mehrfachen Dimension als Revolutionsführer, Staatsmann in der Islamischen Republik und Befreier einer wieder erstarkten und dem großen Widerpart, dem Westen und den USA, ebenbürtigen umma.

Während die Islamische Republik Iran als staatlicher Akteur gegen den Irak einen Krieg führte, baute das Regime in Teheran mit der Hizbollah im Libanon seit 1982 einen nicht-staatlichen Akteur auf, der als politischer und militärischer Ableger Irans im Libanon an einer zweiten Front kämpfen sollte. Der Gegner war der israelische Staat, der im Juni 1982 in den Libanon eindrang. Ziel war es, die von libanesischem Boden aus operierende PLO militärisch zu besiegen. Dies schien erreicht, als PLO-Chef Arafat im August gezwungen wurde, das Land zu verlassen. Unübersehbar aber wurde, daß Israel über die Vertreibung der PLO hinaus die Absicht hatte, den Süden des Landes auf längere Sicht besetzt zu halten. Zugleich machten die USA erhebliche Anstrengungen, die Regierung in Beirut dazu zu bringen, einen Friedensvertrag mit Israel abzuschließen. Am 17. Mai  1983 kam es zur Unterzeichnung eines – nach Ägypten – zweiten Friedensabkommens eines arabischen Staates mit Israel. Es sollte freilich keinen Bestand haben.

Die Hizbollah, die sich aus der schiitischen Bevölkerungsmehrheit des Libanon rekrutierte, führte nunmehr einen bewaffneten Kampf, der erklärtermaßen auch terroristische Gewaltakte als legitimes Mittel des Kampfes einbezog. Sie richteten sich nicht nur gegen Israel, sondern zugleich gegen andere ausländische Militärpräsenz auf libanesischem Boden. Spektakuläre Terrorakte u.a. gegen amerikanische und französische Einrichtungen kosteten Hunderte von Menschen das Leben. Unter enormem militärischen Druck räumte die israelische Armee 1985 den Libanon. Lediglich im Süden des Landes richtete sie eine Sicherheitszone ein (die nach erheblichen Verlusten in der anhaltenden Auseinandersetzung mit der Hizbollah im Mai 2000 aufgegeben wurde).

Die Wirkung Ayatollah Khomeinis hatte unter dem Aspekt des Zusammenhangs von islamischer Religion und Gewalt also zwei Facetten: Die Mobilisierung der umma durch einen staatlichen Akteur, die Islamische Republik Iran, sowie durch eine außerstaatliche gewalttätige und terroristische Organisation. Diese war zwar geographisch im Libanon angesiedelt; ihre Ideologie war aber zugleich transnational. Ihr Kampf richtete sich auf die Beseitigung Israels; mit der bewaffneten Auseinandersetzung würde eine anhaltende Mobilisierung der islamischen umma verbunden sein.

Al-Qa’ida als globaler Akteur

War Khomeini noch Staatsmann, so war es das Konzept Usama Bin Ladins, den Kampf über ein die gesamte umma in allen Teilen der Welt durchziehendes Netzwerk von Tätern zu führen. Seit den 80er Jahren hatten sich zwischen Nordafrika und Indonesien Gruppen gebildet, deren Programm auf den bewaffneten Kampf gegen die bestehenden Systeme mit dem Ziel der Errichtung islamischer Ordnungen an ihrer Stelle ausgerichtet war. Ihre Strategien waren unterschiedlich; auch ihre Stärke und Durchschlagskraft unterschied sich je nach politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten. Ihre Ziele richteten sich im wesentlichen auf die Veränderung des Staates und der Gesellschaft, innerhalb derer sie operierten. Usama Bin Ladin unternahm demgegenüber den Versuch, die einzelnen zu verknüpfen. Signifikant ist der Name, den er der Organisation gab: „al-Qa’ida“, die „Grundlage“; „Basis“ für alle islamistischen Organisationen, denen –bei zahlreichen Unterschieden im einzelnen – die Vision von der Restituierung der umma als Ergebnis eines Kampfes gegen die politische Dominanz und die verderblichen Einflüsse „des Westens“ gemeinsam wäre. Das puristische islamistische Regime der Taleban in Afghanistan wurde der Ort, von dem aus die Führung der Organisation ihre Aktionen planen und ins Werk setzen konnte. Der monströse Terrorakt vom 11. September 2001 war nicht nur sorgfältig vorbereitet, sondern richtete sich auch gegen Ziele, die den Kern der Konfrontation, die militärische und wirtschaftliche Macht der USA als der Vormacht des Westens, verkörperten.

Der Terrorakt der al-Qa’ida war wesentlich auf eine umfassende Mobilisierung der umma gerichtet. Wie in der Besetzung der amerikanischen Botschaft in Teheran im November 1979 auch, wurde nunmehr „unter Beweis gestellt“, daß die Geschicke der islamischen Welt und ihr Verhältnis zum dominanten Westen reversibel sein würden. Er sollte ein Fanal einer umfassenden Aufstandsbewegung sein, in der sich die umma – auch gewalttätig – erheben würde. Aufbauend auf und organisiert von der „Basis“ hat diese begonnen, unabhängig von bzw. gegen die an der Macht befindlichen Regime, die sich in ihrer Abhängigkeit von westlichen Mächten als zu selbständiger Aktion unfähig erwiesen haben, das Geschick in die eigene Hand genommen. In diesem Sinne hat sich der Gewaltakt als durchaus widersprüchlich erwiesen: Auf der einen Seite lehnten ihn weiteste Teile der Öffentlichkeit in der islamischen Welt als Gewaltakt, der Tausende von unschuldigen Opfern gefordert hat, ab. Auf der anderen Seite aber war bei vielen das Gefühl zu spüren, daß nach Lage der Dinge in der Welt - und insbesondere in der islamischen Welt - an ihm doch „etwas dran“ gewesen sein. Noch einmal sei an den Drahtzieher, Geldbeschaffer und Unterstützer des Attentats gegen  das Touristenzentrum auf Bali erinnert, der dieses Gefühl auf den Punkt gebracht hat: „Ich wollte den Heiligen Krieg führen als Rache für die weltweite Ungerechtigkeit gegenüber Muslimen.“

Auch vor diesem Hintergrund stellt sich die Entwicklung seit dem 11. September 2001 widersprüchlich dar: Auf der einen Seite ist die militärische Beseitigung des Taleban-Regimes durch die USA in der islamischen Welt weithin hingenommen worden und hat keineswegs jene Emotionen und Gegenreaktionen ausgelöst, die von Beobachtern vorausgesagt worden sind. Zu „mittelalterlich“ war das Erscheinungsbild des Regimes; die extrem konservative Auslegung des Islam, die sich nicht zuletzt auf die Stellung der Frau bezog, aber auch vor Kunstwerken nicht haltmachte, wie die Sprengung der Buddha-Statuen  von Bamiyan im März 2001 manifestiert, hat das Erscheinungsbild des Regimes in den Augen weitester Kreise der islamischen Welt verdunkelt. Jenseits aber der Eliminierung der Taleban und der Bekämpfung der aktiven Kader der al-Qa’ida-Organisation ließen sich Ansätze jener Mobilisierung erkennen, die Bin Ladin angestrebt hatte. Die eigentümliche Qualität des Terrors, für den al-Qa’ida steht, wird vor dem Hintergrund der Mobilisierung seitens Ayatollah Khomeinis und der Hizbollah deutlich. Hizbollah operierte gegen ein konkretes Ziel, den Staat Israel, dessen Existenz sie bekämpfte und noch immer bekämpft. Ihr Operationsgebiet war klar umrissen: libanesisches Territorium. Al-Qa’ida dagegen bekämpft Ziele, die weltweit lokalisiert sind und nach Lokalisierung und Qualität einen diffusen Charakter haben - Zielobjekt ist bei allem „der Westen“. Taleban-Afghanistan war nur eine Art Hauptquartier; und es war praktisch, im Schutz des Regimes planen und handeln zu können. Al-Qa’ida war keine afghanische Organisation wie Hizbollah eine libanesische Organisation ist.

So ist al-Qa’ida - mehr noch als eine handelnde und durch Personen repräsentierte Organisation - eine Chiffre für eine gewalttätige Auseinandersetzung mit dem Feind. Vor diesem Hintergrund ist die Eskalation von Gewalttätigkeit zu verstehen, die nach der Militäraktion gegen das Taleban-Regime in Fortsetzung des Kampfes gegen den Terror festgestellt werden konnte. Provokant ausgedrückt sind insbesondere die USA in die „Falle“ des Usama Bin Ladin geraten. Wenn es sein Ziel war, die islamische Welt, wie er sie versteht, d.h. die umma jenseits bestehender Grenzen und Regime gegen den Westen zu mobilisieren, dann ist ihm dies zum Teil wenigstens gelungen. Präsident George W. Bush hat nicht vermocht, eine der islamischen Welt plausible Agenda des Kampfes gegen den Terror zu vermitteln. Die Widersprüche amerikanischer Politik -  nicht zuletzt in Palästina - und der Aufmarsch zur Absetzung des diktatorischen Regimes in Bagdad, das bei aller Brutalität mit dem Terror von al-Qa’ida nicht in Verbindung gebracht werden konnte, haben in weitesten Teilen der islamischen Welt die Wahrnehmung genährt, es gehe um etwas anderes als den Kampf gegen den Terror. Nicht zuletzt angesichts der Unwilligkeit des amerikanischen Präsidenten, der israelischen Besatzungsarmee in Palästina in den Arm zu fallen, sind die Stimmen derer lauter geworden, die in der amerikanischen Agenda einen „Kampf gegen den Islam“ sehen. Während die Gewalt in Palästina weiterging und zugleich die amerikanische Militärmaschinerie unaufhaltsam mit Blick auf einen Militärschlag gegen den Irak aufmarschierte, und in dem Maße, in dem die Vereinten Nationen nur als Feigenblatt erschienen, dem amerikanischen Ziel, die gewaltsame Absetzung des Regimes in Bagdad zu verwirklichen, eine Legitimation zu verleihen, während also Gewalt in direkter und indirekter Erscheinungsform die Agenda des Kampfes gegen den Terror bestimmte, gingen islamistische Gruppen in weltweiter geographischer Dimension zur Gegengewalt über.

In diesem Kontext müssen die zahllosen Gewalttätigkeiten eingeordnet werden, die dem Ausbruch des Krieges gegen den Irak in den Jahren 2002/3 vorangegangen sind. Der Widerstand kam und kommt aus der umma heraus. Er bedarf keiner zentralen Organisation mehr, die wohl nach dem intensiven Kampf gegen al-Qa’ida weitgehend zerschlagen wurde. Aber wenn auch al-Qa’ida physisch-organisatorisch nicht mehr besteht oder entscheidend geschwächt ist, so existiert sie doch gleichsam symbolisch oder emotional – ihrem Ziel einer umfassenden Neuordnung innerhalb der islamischen Welt und der Beziehungen zwischen dieser und dem Westen fühlt man sich verbunden. Diese Verbundenheit legitimiert die Ausübung von Gewalt. Und wie in New York in den Twin Towers Menschen starben, einfach weil diese „den Westen“ symbolisierten, so erscheint es gerechtfertigt, wann immer es möglich ist, Touristen, Ingenieure, Ärzte, Entwicklungshelfer etc. zu ermorden.

Die Auseinandersetzung um den internationalen Terrorismus, im wesentlichen eine politische, wirtschaftspolitische sowie sozial- und entwicklungspolitische Herausforderung, wird auf beiden Seiten in religiösen bzw. kulturellen Koordinaten verortet. Unmittelbar nach dem 11. September hat der amerikanische Präsident das Wort des „Kreuzzuges“ im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit den Terroristen geäußert. Er hat das später nicht wieder getan - trotzdem ist etwas von der religiösen Dimension des Begriffs im politischen Raum stehengeblieben. Tatsächlich agiert George W. Bush – das war in der Auseinandersetzung mit dem irakischen Diktator unüberseh- und unüberhörbar - mit einem in christlicher Dimension begründeten Sendungsbewußtsein. Er ist überzeugt, daß er den göttlichen Auftrag hat, die Iraker vom Bösen, d.h. der Diktatur, zu befreien. Er weiß sich mithin auf der Seite des auch im religiösen Sinne Guten im Kampf gegen das von Saddam Husain verkörperte Böse. Dieser christlichen Verortung stehen diejenigen in der islamischen Welt gegenüber, die die Auseinandersetzung um den Terror als „Kampf gegen den Islam“ sehen. Sie sehen sich in einem Abwehrkampf zur Verteidigung „des Islam“. Damit nimmt dieser die Dimension des „dschihad“, eines religiös gerechtfertigten Kampfes, an. In der religiösen Wahrnehmung ergeben sich paradoxe Perspektiven bei der Aufrechnung der Opfer. In der „gerechten“ Auseinandersetzung mit „dem Bösen“, ob Usama bin Ladin, die Taleban oder Saddam Husain, handelt es sich bei der dabei zu Tode gekommenen unbeteiligten Zivilbevölkerung um „Randschäden“. Aus der Gegenperspektive sind die im „gerechten“ Abwehrkampf „des Islam“ gegen „den Westen“ getöteten Touristen auf Djerba, Bali oder in Mombasa sowie die bei anderen Gewalttaten ums Leben gekommenen Unbeteiligten aus zahlreichen Ländern des Westens ebenfalls „Randschäden“.

Die Gewalt geht weiter

Der Krieg gegen das Regime von Saddam Husain, der am 20.3.2003 mit massiven Luftschlägen begann und seine „Randschäden“ hinterließ, war der Höhepunkt der Eskalation der Gewalt im Gefolge des Kampfes gegen den Terror, der nach dem Zusammenbruch der Herrschaft der Taleban in Afghanistan geführt wurde. Er bedeutete insofern eine Herausforderung an das Selbstverständnis zahlreicher Muslime - nicht nur im Nahen Osten - als er keine überzeugende Rechtfertigung hatte. Weder die Massenvernichtungswaffen im Besitz des Diktators noch dessen Verwicklung in den Terror konnten als solche aufrechterhalten werden. Und daß  - eine nachgeschobene Rechtfertigung - im Irak eine Demokratie entsteht, ist zwar für viele Iraker eine „Hoffnung“; weithin in der islamischen Welt fehlt aber das Vertrauen in die Absichtserklärungen aus Washington. Vielmehr dürften in dem Land - und - mit zeitlicher Verzögerung - darüber hinaus in weiten Teilen des Nahen und Mittleren Ostens Veränderungsprozesse losgetreten worden sein, deren Richtung auf absehbare Zeit unüberschaubar bleibt. Angesichts einer diffusen Gemengelage von rivalisierenden Ideologien und Entwicklungsparadigmen sowie des Fehlens charismatischer Persönlichkeiten ist die Vermutung nicht unrealistisch, daß sie in einem hohen Maße gewalttätig verlaufen werden.

Dies um so mehr, als der Westen nicht mehr das Monopol der Bilder und Informationen hat, über die die Wahrnehmung der Menschen im Nahen Osten beeinflußt werden und die Interpretation des Geschehens gesteuert werden können. Die um die Mitte der 90er Jahre entstandenen arabischen Medien, für die der von Qatar ausstrahlende Sender „al-Dschazira“ steht, haben während des Irak-Krieges jene Qualität von Bildern ausgestrahlt, die starke Sensibilitäten ihres arabischen Publikums berühren. Diese speisen sich aus der Erfahrung des „déjà-vu“: Danach handelt es sich bei dem Krieg im Irak samt seiner propagandistischen Begleitmusik um eine Wiederholung jener Form von Gewalttätigkeit (und ihrer propagandistischen Begleitmusik, die – in der Wahrnehmung der Menschen – den Umgang des Westens mit der islamischen Welt seit mindestens zwei Jahrhunderten kennzeichnete. Daß dies während des Krieges im Irak nicht ohne mobilisierende Wirkung blieb, konnte auch außerhalb des Nahen Ostens nicht verborgen bleiben. Angesichts des geistigen und politischen Vakuums werden die Islamisten diejenigen sein, die es mit ihrer islamisch-religiösen Rhetorik, der zu widersprechen einem Muslim unter den gegebenen Bedingungen schwerfällt, und ihrer action – Gewalttätigkeit eingeschlossen – zu füllen bemüht sein werden. Wiederum werden es also nicht Staaten und deren Regierungen sein, die den Widerpart zur Politik des Westens, namentlich der USA, bilden. Der Widerpart als militanter Widerstand wird vielmehr im Bezugssystem der umma angesiedelt. Die beinahe zeitgleichen Selbstmordattentate in Riad  und Rabat im Mai sowie in Djakarta im August 2003 sind Indizien in diese Richtung.

Die Thematik des internationalen Terrors, der eine islamische Rechtfertigung hat, wird der Welt und insbesondere den Medien in Europa und den USA schlagzeilen- und emotionsträchtig erhalten bleiben. Was den Sachverhalt selbst betrifft, so sollten wir uns indessen nicht täuschen lassen: Denn er sagt weniger über den Islam als über einen Westen – angeführt von den USA – aus, dem es schwerfällt zu begreifen, daß die tiefgreifenden Strukturprobleme der Weltpolitik nach dem Ende des Ost-West-Gegensatzes, aus denen heraus ein Gutteil der hier thematisierten Gewalttätigkeit erwächst, nicht gemäß der Agenda einer einzigen Macht, sondern nur kooperativ unter allen Beteiligten zu lösen sind.