Türkei 2010 - wie weiter? – März 2010

Veröffentlicht: Mittwoch, 23. Juni 2010 14:34

Das Verbot der kurdischen Partei der Demokratischen Gesellschaft (Demokratik Toplum Partisi) durch das türkische Verfassungsgericht am 11. Dezember 2009. kam nicht unerwartet. Gleichwohl war der Zeitpunkt geeignet, Spekulationen zu nähren, das Verbot sei nicht nur das Ergebnis einer juristischen Bewertung der Verfassungsmäßigkeit der Partei, sondern auch Teil der innenpolitischen Auseinandersetzungen um die Bemühungen der Regierung, mittels der Strategie der „demokratischen Öffnung“ zu einer politischen Lösung der „Kurdenfrage“ zu gelangen. In dem gleichen Kontext ist auch die Entscheidung des Verfassungsgerichts von Anfang 2010 zu sehen, dass türkische Generäle nicht vor zivilen Gerichten angeklagt werden dürfen. Beide Entscheidungen können als strategische Weichenstellungen des kemalistischen Lagers in Politik und Gesellschaft der Türkei bewertet werden, den von der Regierung unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan seit Jahren eingeleiteten Umbau der türkischen Gesellschaft zu blockieren.

Hintergrund

Die Türkische Republik hat in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts eine rasante politische und wirtschaftliche Entwicklung erfahren.Diese war nicht ohne inneren Widerspruch: Auf der einen Seite bedeuteten die nach der Regierungsübernahme durch die Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (Adalet ve Kalkınma Partisi, AKP) im November 2002 eingeleiteten Reformen eine konsequente Fortführung des Prozesses der Annäherung an Europa, der seit der Staatsgründung 1923 von Mustafa Kemal Atatürk und nach seinem Tode (November 1938) von der „kemalistischen“ Staatselite verfolgt worden war. Mit den Reformen war die AKP-Regierung unter Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan bemüht, den von der Europäischen Union (EU) unter dem Stichwort der „Kopenhagener Kriterien“ seit langem geforderten Reformmaßnahmen zu genügen. Als Ergebnis dieser Politik konnten am 3. Oktober 2005 die Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei beginnen.

Auf der anderen Seite schienen die Reformen zu Prinzipien im Widerspruch zu stehen, die die kemalistische Staatselite als unumstößlich für die Modernisierung (wie sie sie verstand und weithin noch versteht) und die Stabilität der Türkei betrachtet. Von Anfang an stand die AKP in den Augen der Kemalisten unter dem Verdacht, den laizistischen Charakter der Türkei unterminieren zu wollen. Tatsächlich kommen die führenden Persönlichkeiten aus einer politischen Tradition (die sich mit dem Namen von Necmettin Erbakan verbindet), die seit den 1960er Jahren bemüht war, über eine Islamisierung von Gesellschaft, Staat und Recht eine „gerechte Ordnung“ (adil düzen) zu errichten. Die von Erbakan gegründeten Parteien waren vom Verfassungsgericht wiederholt (zuletzt 1999) verboten worden. Den Versicherungen Erdoğans, Abdullah Güls (seit August 2007 Staatspräsident) und anderer führender Persönlichkeiten der AKP, die Partei stehe zum Prinzip der Trennung von Religion und Politik, respektiere gesellschaftlichen Pluralismus und verfolge über eine Vertiefung der Demokratisierung die weitere Annäherung an und schließlich die Aufnahme in die EU, wurde mit Skepsis und Ablehnung aufgenommen. Die Tatsache, dass die Ehefrauen der führenden Persönlichkeiten der Partei das Kopftuch tragen, schien die Skepsis hinsichtlich der Glaubwürdigkeit von derlei Versicherungen zu bestätigen. Tatsächlich ist mit der Machtausübung der AKP ein Gründungsdogma der Türkischen Republik, dass der Islam vollständig aus dem öffentlichen Raum herauszuhalten sei, ins Wanken gebracht.

Auch das seit der Gründung der Republik durch Mustafa Kemal Atatürk 1923 heilige Prinzip des türkischen Nationalismus schien die AKP-Führung auszuhöhlen. Im Februar 1999 war der Führer der mit auch terroristischen Strategien operierenden Kurdischen Arbeiterpartei (PKK), Abdullah Öcalan, auf der Flucht in Kenia verhaftet worden. Der Volkszorn forderte die Todesstrafe und Öcalans Hinrichtung. Die Abschaffung der Todesstrafe in einem der Reformpakete bedeutete einen ersten Schritt in Richtung auf eine Aufweichung der Konfrontation zwischen dem türkischen Staat und den Kurden, die für sich die politischen und kulturellen Rechte einer Minderheit nach internationalen Standards fordern. Unumwunden räumte der Ministerpräsident ein (was bislang von der kemalistischen Staatselite bestritten worden war), dass es ein kurdisches Problem gebe. Schließlich wurden im Zuge der Reformpakete – wenngleich unter strikten Auflagen – der öffentliche Gebrauch der kurdischen Sprache auch in den Medien und der Unterricht in ihr eingeräumt. Damit war das zweite fundamentale Gründungsdogma, dass die Bevölkerung in dem türkischen Nationalstaat ausschließlich türkisch sein, in Frage gestellt.

Die aktuelle Situation

Der Machtkampf zwischen der Regierung und der Staatselite hat in dem „Ergenekon“ – Verfahren einen Brennpunkt. Seit 2007 klären die Behörden gegen ein subversives Netzwerk auf, das den Sturz der Regierung und – am Ende provozierter Destabilisierung des Landes – die Einmischung des Militärs zum Ziel hatte. Unter den Beschuldigten befinden sich neben prominenten Namen des nationalistischen und kemalistischen Establishments aus Politik, Sicherheitsapparat, Justiz und den Medien auch ‚Angehörige der Armee, darunter auch Ex-Generäle. Geradezu revolutionär war die Tatsache, dass ranghohe Offiziere, darunter der ehemalige Generalstabschef Özkök, von der Staatsanwaltschaft zu Anhörungen vorgeladen wurden. Im Zusammenhang mit über die Medien bekannt gewordenen Putschplänen aus der Armee mussten im Dezember 2009 drei pensionierte Kommandeure der Teilstreitkräfte vor einem zivilen Istanbuler Staatsanwalt aussagen – eine politische Revolution in der Türkei. Freiwillig ließ sich der frühere Generalstabschef Hilmi Özkök, der sich selbst stolz einen Demokraten nennt, von einem Staatsanwalt vernehmen. Im Dezember 2009 waren Büros des Militärgeheimdienstes in Ankara seitens der Staatsanwaltschaft und der Polizei durchsucht worden, wobei acht Offiziere festgenommen wurden. Anlass dazu war das auffällige Verhalten von Angehörigen des militärischen Dienstes, die enttarnt wurden, als sie das Haus von Vizeregierungschef Bülent Arınç observierten.

Bereits vor der Machübernahme durch die AKP begann das Verhältnis zwischen dem zivilen und dem militärischen Bereich Veränderungen unterworfen zu werden. Die Reform von Artikel 118 der türkischen Verfassung im Jahre 2001 stärkte die zivilen Kräfte im Nationalen Sicherheitsrat und unterstreicht ausdrücklich dessen nur beratende Kompetenz. Nach der Regierungsübernahme der AKP im November 2002 eliminierte die Regierung Erdoğan das Privileg der Armee, das sie von der Offenlegung ihres Haushalts befreite. Die Reformschritte der Jahre 2003 und 2004 haben dann die Rolle der zivilen Entscheidungsträger in Regierung und Parlament gegenüber dem Militär zusätzlich gestärkt. Diese Verschiebung der Machverhältnisse setzte sich im Juli 2009 fort: Auf Betreiben der Regierung verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das Soldaten erstmals in der Geschichte der zivilen Gerichtsbarkeit unterstellte. Das Gesetz war nicht nur von den Streitkräften, sondern auch von der größten – und besonders armeefreundlichen - Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP) heftig kritisiert worden. Diese hatte auch das Verfahren vor dem Verfassungsgericht eingeleitet. Das sah in der Gesetzesänderung einen Verstoß gegen Artikel 145 der türkischen Verfassung. Darin ist die Militärgerichtsbarkeit geregelt. (Allerdings ist dabei ausdrücklich von Vergehen von Soldaten gegen andere Militärpersonen oder militärische Einrichtungen die Rede.) Mit der Veröffentlichung eines in der Armee ausgearbeiteten Plans gezielter Destabilisierung der Türkei unter der Bezeichnung „Vorschlaghammer“ ist die Armeeführung weiter in Erklärungsnöte und in die Enge getrieben worden (Februar 2010).

Auch die Bemühungen um eine politische und gesellschaftliche Lösung der Kurdenfrage sind zwischen die Mühlsteine der Verwerfungen zwischen der Regierung und der zivilen und militärischen Opposition geraten. Im Juli 2008 hatte das Verfassungsgericht dem Antrag des Generalstaatsanwalts, die AKP auf der Grundlage des Vorwurfs, das Prinzip des Laizismus zu verletzen, zu verbieten, nicht stattgegeben. Damit hatte die Regierung wieder einen Handlungsspielraum, den nicht zuletzt von der EU eingeforderten Reformprozess fortzusetzen. Dies schien umso mehr geraten, als die Gemeinderatswahlen Ende März 2009 mit Stimmeneinbußen insbesondere im Osten ein Warnsignal an den Ministerpräsidenten gesandt hatten.

Im Juli 2009 initiierte die Regierung eine Kampagne der „demokratischen Öffnung“. Gemeint waren – ohne dass die Regierung dies konkretisiert hätte – die Lösung der „kurdischen Frage“ durch die Einbettung in demokratische Prozesse und Strukturen sowie die Gewährung von Rechten nach den Standards der EU. Der Versuch, die Opposition, d.h. vor allem die CHP und MHP zu gewinnen, scheiterte. Als besonders problematisch freilich erwies sich die Haltung der kurdischen DTP zu den Bemühungen. Mit der Forderung, den inhaftierten PKK-Chef Abdullah Öcalan in den Prozess einzubeziehen und dessen Vorstellungen zur „demokratischen Öffnung“ Rechnung zu tragen, lieferte sie der Opposition Munition, den Prozess als Willfährigkeit gegenüber der PKK zu denunzieren. Tatsächlich war die DTP nicht bereit, zur PKK politisch auf Distanz zu gehen. Sie demonstrierte dies öffentlich, als sie im Oktober PKK-Kämpfer, die das Angebot der Regierung auf Amnestie wahrzunehmen schienen und die irakisch-türkische Grenze überschritten, in ihrer Eigenschaft als PKK-Kämpfer gleichsam im Triumph in Ostanatolien herumreichte. Weitere Attentate der PKK komplizierten die Situation. Zugleich eskalierten die Spannungen zwischen der Regierung auf der einen und der Opposition sowie dem Militär auf der anderen Seite im Zusammenhang mit den Ergenekon-Untersuchungen.

Mit dem Verbot der DTP im Dezember 2009 – das Verfahren hatte im November 2007 begonnen (zugleich wurde 37 Parteimitgliedern, darunter Parteichef Ahmet Türk und eine weitere Parlamentarierin, ein Politikverbot für fünf Jahre erteilt) - kompliziert sich die innenpolitische Lage für die Regierung. Zwar ist mit der Partei für Frieden und Demokratie (BDP) ein Auffangbecken für Mitglieder und Parlamentarier der DTP geschaffen worden und damit die Frage gestellt, ob die neue Partei bereiter sein wird, mit der Regierung an demselben Strang zu ziehen. Erste Anzeichen lassen Skepsis angezeigt erscheinen. Umgehend haben Vertreter der neuen Partei erkennen lassen, dass sie weiterhin entschlossen sind, politische Schritte ihrerseits mit PKK- Chef Öcalan abzustimmen. Dies wird es der Regierung erschweren, gemeinsame Schritte zu unternehmen – das Dogma, dass man mit Terroristen nicht verhandle, besteht fort.

Bewertung

Das Verbot der DTP hat die innenpolitische Polarisierung verschärft. In zahlreichen Städten ist es zu Zusammenstößen zwischen den Sicherheitskräften und kurdischen Demonstranten gekommen. Dabei wurden auch Verhaftungen, insbesondere auch von Bürgermeistern im Osten vorgenommen. Innenpolitisch sind die Gegner des Ausgleichsprozesses mit den Kurden auch weitgehend identisch mit den Kräften, die sich einer weiteren Aufklärung im Ergenekon-Prozess, insbesondere der Aufklärung innerhalb des Militärs, entgegenstellen; neben der Armee also vor allem die kemalistische CHP (im Verbund mit der MHP). Unklar bleibt für den Augenblick, wie der Ministerpräsident weiter verfahren wird; dies nicht zuletzt auch mit Blick auf die Parlamentswahlen im Jahre 2011. Der Ausgang derselben würde dann auch über ein Projekt entscheiden, das seit langem in der Diskussion ist: eine tief greifende Veränderung bzw. vollständige Neufassung der Verfassung. In einer solchen würden naturgemäß Weichen der künftigen Entwicklung von Staat und Gesellschaft fundamental neu gestellt werden. Die andiskutierten Themen reichen von der Neudefinition der Identität des türkischen Staates und der Identität „des Türken“ bis zur Neuordnung der Stellung der Armee im Staat.

Die jüngsten Entscheidungen des Verfassungsgerichts bedeuten einen Rückschlag für die Politik des Ministerpräsidenten. Im Überblick über den gesamten Zeitraum seit 2002, der durch das Bemühen der AKP unter Erdoğan gekennzeichnet ist, Staat und Gesellschaft tief greifend zu modernisieren und auf eine Grundlage zu stellen, die den Forderungen der EU genügt, ist zu erwarten, dass der Ministerpräsident den eingeschlagenen Weg fortsetzen wird. Eine Destabilisierung der Türkei und eine grundlegende Änderung des Kurses der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erneuerung sind nahezu auszuschließen. Die Politik der gesellschaftlichen Pluralisierung findet in einer breiten Öffentlichkeit Unterstützung, auch wenn das Wahlergebnis vom Juli 2007 bei den nächsten Wahlen nicht erreicht werden dürfte. Das Militär kann als Machtfaktor natürlich keineswegs abgeschrieben werden; Äußerungen auch des Generalstabschefs lassen erhebliche Frustrationen vor allem über die Einmischung der Politik und von Teilen der Justiz in Bereiche erkennen, die die Armeeführung bis in die jüngste Zeit als ihre eigenen inneren Angelegenheiten betrachtet hat. In der Tat sind die Beziehungen zwischen der Regierungspartei und der Armee gespannt. Die zahlreichen Putschgerüchte sprechen eine deutliche Sprache. Im Vergleich aber zu den sechziger und siebziger Jahren haben sich die Rahmenbedingungen in Politik und Gesellschaft der Türkei selbst wie in der internationalen Landschaft in einer Weise verändert, die eine Machtübernahme durch das Militär nahezu unmöglich macht. Auch ist die Militärführung selbst diesbezüglich nicht mehr geschlossen, wie das Mitwirken z. B. des ehemaligen Generalstabschefs Hilmi Özkök an der Ergenekon - Aufklärung erkennen lässt.

Nicht nur die Entwicklungen um das Ergenekon – Verfahren, von dem insbesondere die Kritiker in der Opposition sagen, dass es nicht nur um eine juristische Aufarbeitung, sondern auch um politische und persönliche Abrechnungen gehe, lassen die inneren Spannungen in der Türkei erkennen. Diesbezüglich signifikant ist auch der Machtkampf zwischen dem Ministerpräsidenten und Yalçın Doğan, Chef des bis vor kurzem größten Medienkonglomerats in der Türkei. Der Vorgang lenkt den Blick auf ein Grundproblem der Medienlandschaft in dem Land, die enge Verflechtung wirtschaftlicher Interessen mit den Eigentumsstrukturen des Mediensektors. In hohem Maße prägen wirtschaftliche Interessen das Verhältnis der Medien zur politischen Macht und zu redaktionellen Inhalten. Mit der Staatskrise von 2007 verschärften sich die Auseinandersetzungen nicht nur innerhalb der Medienlandschaft, sondern auch zwischen den Eigentümern der Medien auf Seiten der Regierung und der Opposition. Höhepunkt der Auseinadersetzung zwischen Ministerpräsident Erdoğan und der zu ihm in Opposition stehenden Doğan-Gruppe war ein Betrugsskandal, der 2008 vor dem Landgericht in Frankfurt verhandelt wurde. Die Beweise für eine Verwicklung von Funktionären der AKP waren erdrückend. Der Ministerpräsident reagierte mit heftigen Attacken auf Aydın Doğan, weil die Doğan-Medien – im Gegensatz zu den AKP-nahen Medien – ausführlich über den Prozess berichteten. Der Ministerpräsident warf Doğan vor, die Regierung unter Druck zu setzen, um wirtschaftliche Interessen der Konzerns durchzusetzen. Es ginge in Wirklichkeit um Baugenehmigungen für das Hilton-Grundstück in Istanbul und um die terrestrischen Frequenzen bei dem Fernsehsender CNN. Aus der seither geführten Schlammschlacht, bei der auch der dem Ministerpräsidenten gegenüber freundlich eingestellte Çalık-Konzern eine Rolle spielt, ist der Ministerpräsident als Sieger hervorgegangen. Hohe Steuerforderungen brachten Doğan in erhebliche wirtschaftliche Schwierigkeiten; ein Teil seines Medienimperiums musste verkauft werden (zum Teil an die regierungsnahe Ipek-Gruppe). Zum Jahresende 2009 wurden schließlich einschneidende personelle Änderungen getroffen, die als Nachgeben gegenüber der Regierung gewertet werden müssen. Aufsehen erregte insbesondere der Rücktritt von Ertuğrul Özkök; er war zwanzig Jahre lang der Chef der auflagenstärksten Zeitung Hürriyet (dem Militär nahe stehend). Doğan selbst trat als Vorsitzender der Doğan-Holding zurück. Gegen die enge Verflechtung von Medien und wirtschaftlichen Interessen erhebt sich zwar Widerstand; aber einige kleinere unabhängige Zeitungen waren bisher nur ansatzweise in der Lage, ein publizistisches Widerlager zu bilden.

Die Außenpolitik der „strategischen Tiefe“

Die Veränderung der letzten Jahre in der türkischen Innenpolitik und Gesellschaft spiegeln sich auch in der Außenpolitik. Seit der Gründung der Republik hatte sich die türkische Außenpolitik gegenüber ihrem geopolitischen Umfeld verschlossen gezeigt. Insbesondere hatte die türkische Führung jede Verwicklung in die Konflikte im geopolitischen Umfeld des Landes, namentlich im Nahen Osten, gemieden. Mit den neunziger Jahren belebten sich die Beziehungen zu den neuen Staaten auf dem Balkan und in Zentralasien. Der arabische Raum und Iran hielten ihrerseits Distanz zu einer Macht, zu der die Beziehungen durch die Geschichte bzw. weltanschauliche Differenzen belastet waren. Wie sehr aber die Außenpolitik noch Sache der herkömmlichen Staatselite war, hatte sich Mitte der neunziger Jahre gezeigt, als insbesondere auf Druck des Militärs die politischen und sicherheitspolitischen Beziehungen mit Israel aufgewertet wurden. Diese Allianz hatte die sicherheitspolitische Balance in der Region nachhaltig zugunsten der Türkei verändert.

Das gemäßigt islamistische Regime in Ankara unter Ministerpräsident Erdoğan und seinem Außenminister Abdullah Gül (seit 2007 Staatspräsident) hat die Horizonte der türkischen Außenpolitik verändert und erweitert. Dies gilt insbesondere für den Nahen Osten und den Kaukasus. Ankara sucht eine aktive Rolle bei der Vermittlung zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn, insbesondere den Palästinensern. Dabei beschreitet die Regierung auch Wege, die durchaus außerhalb des Konsenses der internationalen Gemeinschaft liegen. Besonders auffallend waren die Kontakte zu der islamistischen palästinensischen Widerstandsgruppe Hamas im Gefolge der palästinensischen Wahlen im Januar 2006, aus denen die Organisation als stärkste Gruppierung, der freilich die internationale Anerkennung versagt blieb, hervorgegangen ist. Auch zu Iran haben sich enge wirtschaftliche Kontakte ergeben; die Dämonisierung des iranischen Atomprogramms wird in Ankara (noch?) nicht nachvollzogen.

Architekt dieser von ihm als „Politik der strategischen Tiefe“ genannten Wende türkischer Außenpolitik ist Ahmet Davutoğlu. Professor der Politikwissenschaft, hat er als graue Eminenz und Berater Erdoğans die Richtung der türkischen Außenpolitik wesentlich bestimmt. Mag die Bezeichnung „Neo-Osmanen“ in Ankara auch nicht gern gehört sein, so besteht der Kern seines außenpolitischen Konzepts darin, der Türkei ihren Platz in einem politischen und geographischen Raum zu schaffen, der in der Geschichte entweder Teil des Osmanischen Reiches war oder mit dem das Reich in intensiver politischer – friedlicher wie kriegerischer – Interaktion verbunden war. Damit sind die kemalistischen Tabus definitiv gefallen; geschichtliche, kulturelle und/oder religiöse Faktoren bestimmen die Qualität der Beziehungen.

Diese „Null-Problem“ – Politik (ein anderes Etikett für diese Politik) hat insbesondere die Beziehungen zu Syrien und dem Irak auf eine neue Grundlage gestellt. Zahlreiche politische und wirtschaftliche Abkommen wurden geschlossen. Eine unermüdliche Reisetätigkeit führte den Außenminister auch auf den Balkan, in den Kaukasus, nach Zentralasien und insbesondere in die entfernteren arabischen Staaten. Mit der Arabischen Liga wurde ein Beobachterstatus vereinbart.

Der bislang spektakulärste Akzent wurde in den Beziehungen zu Armenien gesetzt. Nach einem kurzen Frühling fielen die Beziehungen zwischen beiden Ländern 1993 in eine Eiszeit, als Ankara sich im Konflikt um Nagorny Karabach auf die Seite des brüderlichen Aserbaidschan schlug. Die Grenze blieb gesperrt. Der Grenzverlauf, der Streit um die Bewertung der Armenier – Katastrophe von 1915/16 („Genozid“ oder nicht) und die anhaltende Besetzung eines Fünftels des aserbaidschanischen Staatsgebietes durch Armenien bildeten hohe Barrieren, die eine Annäherung ab 1993 verhinderten. Im Zuge der gesellschaftlichen Pluralisierung in den letzten Jahren hat – wie andere Reizthemen auch – die Armenierfrage ihren Tabucharakter zu einem Gutteil verloren. Auch die Frage nach einem „Genozid“ ist Gegenstand akademischer und politischer Diskussionen geworden. Seit langem fordert der Ministerpräsident die Einsetzung einer gemeinsamen Kommission, die Sachverhalte auf der Basis aller vorhandenen Archivmaterialien aufzuklären. Auch in den politischen und wirtschaftlichen Beziehungen war seit längerem ein Tauwetter zu beobachten. Trotzdem war die Unterzeichnung zweiter Protokolle am 10. Oktober 2009 eine Überraschung. In ihnen werden die Aufnahme diplomatischer Beziehungen geregelt und die Schritte der Normalisierung der Beziehungen vereinbart.

Der Prozess der türkisch – armenischen Annäherung ist in Baku mit Sorge, ja Ablehnung verfolgt worden. Zeitweilig hat die aserbaidschanische Führung sogar Konsequenzen für die energiewirtschaftliche Zusammenarbeit mit Ankara durchblicken lassen. Es wird befürchtet, dass diese Entwicklung zu einer Schwächung des Drucks auf Armenien führe, die Besatzung aserbaidschanischen Territoriums zu beenden und zu einer politischen Lösung des Karabach – Problems zu kommen. Ankara hat diese Besorgnis wiederholt für gegenstandslos erklärt und versichert, dass es keine Fortschritte im türkisch – armenischen Verhältnis ohne eine aserbaidschanisch – armenische Verständigung über die bilateralen Probleme geben werde. Diese Versicherung ist nicht zuletzt deshalb glaubhaft, als das „brüderliche“ türkisch – aserbaidschanische Verhältnis in breitesten Teilen der Gesellschaft in der Türkei präsent ist. Wenn die Ratifizierung der türkisch – armenischen Protokolle im türkischen Parlament ohnehin nicht leicht sein wird, so würde sie unmöglich, wenn die Fortentwicklung des türkisch – armenischen Verhältnisses in Parlament, Öffentlichkeit und Medien als zu Lasten der Interessen des aserbaidschanischen „Brudervolkes“ gehend wahrgenommen würde.

Auch die Gestaltung der Beziehungen zu Russland ist Ausdruck des gewandelten Selbstbewusstseins der türkischen Außenpolitik und der Bewertung des Stellenwerts des geopolitischen Umfelds im Licht der Geschichte und aktueller, sich wandelnder türkischer Interessen. Wenn auch für drei Jahrhunderte der „Erbfeind“ der Osmanen und Türken, gehört doch die Interaktion mit dem zaristischen Russland und später mit der Sowjetunion (die junge Sowjetunion unterstützte die türkischen Nationalisten in ihrem Kampf politisch und finanziell) in jenen Zusammenhang der „strategischen Tiefe“, die die Außenpolitik Davutoğlus leitet. Das Ende der Sowjetunion sah zunächst einen türkisch – russischen Wettbewerb um Einfluss im Kaukasus und in Zentralasien. Nichtsdestoweniger intensivierten sich über die Jahre die wirtschaftlichen Beziehungen kontinuierlich. Mit zunehmender Klarheit sieht Ankara die künftige Bedeutung der Türkei als Energiebrücke zwischen dem asiatischen Raum und Europa. Die Türkei ist sich des strategischen Stellenwerts der Nabucco – Pipeline für die Energieversorgung der EU bewusst. In diesem „Geschäft“ will Ankara aber mehr sein als nur eine „Brücke“. Es verhandelt entsprechend selbstbewusst nicht zuletzt auch im Lichte eigener Energieinteressen. „Geschäftsmäßig“ wird dabei auch die neue Partnerschaft mit Russland gesehen. Russlands Interesse am Bau von „Southstream“ wird in Ankara in erster Linie im doppelten Licht türkischer Energieinteressen und der weiteren Verbesserung der Beziehungen mit Moskau gesehen. Die Zeiten, da türkisches Handeln sich wesentlich aus Bündniserwägungen (NATO und EU) bestimmt, sind vorbei. Nicht zuletzt der kurze georgisch-russische Krieg im August 2008 hat in Ankara die Erkenntnis geschärft, dass den politischen, sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Interessen am besten mit einem Ausgleich mit dem “Erbfeind“, dessen Einfluss im Kaukasus und in Zentralasien noch immer beträchtlich ist, gedient ist. Nur gemeinsam mit Moskau lassen sich auch die Konflikte im Südkaukasus, nicht zuletzt der schwelende Konflikt in Nagorny Karabach beilegen. Dies ist auch die Argumentationsschiene, auf der Ankara der Beunruhigung in Baku über die armenisch-türkische Annäherung zu begegnen sucht.

Fällt der Neuausrichtung der türkischen Außenpolitik das strategische Verhältnis zu Israel zum Opfer? Unübersehbar ist jedenfalls eine Verschlechterung der Beziehungen über die letzten Jahre. Dies hat komplexe Gründe. Seit 1949 sind die Beziehungen nicht statisch geblieben, sondern haben ihr Auf und Ab im Zusammenhang innen- und außenpolitischer Konstellationen erlebt. Es war darauf hingewiesen worden, dass die strategischen Abmachungen Mitte der neunziger Jahre in erster Linie die Interessen der Militärs reflektierten. Eine breite emotionale Zustimmung zu Israel und den Beziehungen zu diesem hat es in der türkischen Öffentlichkeit nicht gegeben. Mit dem Ausbruch der zweiten Intifada im Jahr 2000 und der harten israelischen Reaktion darauf haben sich die Beziehungen nicht zuletzt auch mit der islamistischen Regierung abgekühlt, die Ende 2002 an die Regierung kam und naturgemäß eine Art islamischer Solidarität mit dem Schicksal der „muslimischen“ Palästinenser empfindet. Der Ministerpräsident hat die israelische Politik und insbesondere die Militäreinsätze wiederholt mit scharfen Worten kritisiert. Der Krieg in Gaza (2008/9) hat antiisraelische Emotionen weiter anwachsen lassen. Der Ministerpräsident hat auf ihnen populistisch gespielt. Auch fühlt Ankara seinen Einsatz für die Vermittlung zu den Konfliktgegnern Israels, nicht zuletzt Syrien, nicht hinreichend gewürdigt. Dass auch die Regierung Netanyahu der Türkei mit geringem Respekt begegnet, kam im Januar 2010 in der entwürdigenden Behandlung des türkischen Botschafters in Israel zum Ausdruck, der einbestellt worden war, um einen Protest der israelischen Regierung gegen eine Fernsehserie („Das Tal der Wölfe“) entgegen zu nehmen, die – neben anderen Unappetitlichkeiten - auch einen antisemitischen Charakter hat. Die Absage gemeinsamer Marinemanöver (mit Israel und den USA) ist auch von den türkischen Militärs hingenommen worden.

Welchen Stellenwert haben die Beziehungen Ankaras zur Europäischen Union (EU) in diesen neuen Koordinaten? Kehren die „Neo-Osmanen“ der EU früher oder später den Rücken? Dies ist unwahrscheinlich; doch könnte sich die Qualität dieser Beziehungen verändern. Äußerungen der Regierung lassen erkennen. dass sich der Prozess der Annäherung der Türkei an die EU „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ fortsetzen werde. Die Bemühungen der Regierung, die Kurdenfrage im Rahmen der Vertiefung der Demokratie zu lösen und das Militär ziviler Kontrolle und Gerichtsbarkeit zu unterstellen, weisen in diese Richtung. Die Unterstützung seitens der EU ist gegenwärtig und bis auf weiteres essentiell; ein enges und konstruktives Verhältnis zu Brüssel verleiht seinen Maßnahmen auch gegenüber seinen politischen Gegnern gesteigerte Legitimation. Der Ministerpräsident hat wiederholt eine Verstärkung des Reformprozesses mit dem Ziel der beschleunigten Annäherung in Aussicht gestellt. Nicht zuletzt die bekannt gewordenen Reaktionen von Militär und Opposition, die Uhr in der Türkei zurück zu stellen, haben unterstrichen, wie wichtig der Fortgang des Reformprozesses mit Blick auch auf die Stabilität des Landes ist. Der bekannt gewordene Entwurf einer neuen Verfassung ist eng an Verfassungen von EU - Mitgliedern, insbesondere Deutschland, angelehnt. Was sich Ankara freilich wünscht, ist die Anerkennung Brüssels für die neue Rolle als regionaler Stabilitätsfaktor und Energiebrücke. In der Einschätzung Ankaras ist die vertiefte Einbindung der Türkei in das regionale Umfeld nicht als Alternative zur EU-Mitgliedschaft, sondern als komplementäre Strategie zu einem weiteren Ausbau der Beziehungen mit Brüssel zu sehen. In seinem jüngsten Besuch in Ankara hat Außenminister Westerwelle den richtigen Ton gefunden.

Damit ist auch die Kontinuität des wirtschaftspolitischen Kurses der Türkei gesichert. Nicht zuletzt über den Energiesektor hat sich die Einbindung der Türkei in die Weltwirtschaft zunehmend vertieft. Die Verstärkung der Außenwirtschaftsbeziehungen ist namentlich auf die Nachbarn ausgerichtet. Der Abschluss zahlreicher wirtschaftlicher Abkommen mit den arabischen Nachbarn lässt den Außenminister von „strategischen Beziehungen“ zu diesen politischen und wirtschaftlichen Partnern sprechen. Dies setzt Kontinuität und Verlässlichkeit in die langfristige Wirtschaftspolitik voraus. Auch mit Blick auf die Überwindung der Wirtschaftskrise 2008/9 setzt die Regierung wesentlich auf privatwirtschaftliche Investitionen.

Die Zukunft des Reformprozesses in breiter Perspektive

Die vorstehend dargestellten Entwicklungen lassen sich im breiteren Rahmen des anhaltenden Modernisierungsprozesses politischer und gesellschaftlicher Strukturen, Prozeduren und Institutionen verorten. Zwar prägen die autoritären, hierarchischen und staatszentrierten Strukturen, welche die moderne Staatsbildung der Türkei geprägt haben, bis heute das politische Leben des Landes. Dass die Transformation aber im Gange ist, haben die Wahlen vom 22. Juli 2007 eindeutig gezeigt.

Der Wahlsieg der AKP war sicher keine Überraschung, hatten ihn die Demoskopen doch voraus gesagt. Eine kleine Sensation war er aber in seiner Höhe dennoch. Das Ergebnis der AKP zeigt, dass es ihr gelungen war, ihre Wählerbasis in dem Maße zu verbreitern, dass sie fast als eine konservative Volkspartei bezeichnet werden könnte. Offensichtlich hatte die vom Militär, Teilen des Justizapparats, dem im Frühjahr 2007 amtierenden Staatspräsidenten Sezer und der nationalistischen Opposition geführte Kampagne gegen die AKP die türkischen Wähler nicht beeindrucken können. Im Gegenteil, sie haben mit dem Stimmzettel ihrem Wunsch nach mehr Demokratie, mehr gesellschaftlichen Freiheiten, fortgesetzter ökonomischer Stabilität und europäischer Integration Ausdruck verliehen. Trotz ihrer politischen Wurzeln im islamistischen Flügel der türkischen Parteienlandschaft war es der AKP offensichtlich gelungen, die Stimmen von vielen, nicht religiös eingestellten Türken zu gewinnen. Die türkischen Wähler liessen sich also bei ihrer Stimmabgabe nicht mehr so sehr von der Polarisierung zwischen säkularistischen und islamistischen Kräften leiten, sondern hatten sich im Lichte der anti-demokratischen Kampagne des kemalistisch-nationalistischen Lagers für die Gemeinsamkeit der Demokraten jenseits des säkularistischen Dogmas entschieden. Mit der Wahl von Abdullah Gül zum Staatspräsidenten, die mit einfacher parlamentarischer Mehrheit trotz einer erneuten Warnung des Militärs im dritten Wahlgang am 28. August 2007 erfolgte, war die Kampagne der kemalistischen Kräfte vollends fehlgeschlagen. Die AKP hatte nicht nur ihren politischen Führungsanspruch eindrucksvoll bestätigen, sondern am Ende auch ihren Mann für das erste Amt im Staate durchsetzen können.

Die Parlamentswahlen waren ein deutlicher Beweis, dass die Befürworter einer autoritären Politik zahlenmäßig zunehmend von denjenigen Türken überflügelt werden, die – unabhängig von ihren religiösen Einstellungen – den demokratischen Wandel im Lande deutlich begrüßen. Nur eine demokratische Türkei, die auf einer funktionierenden Marktwirtschaft und einer rechtstaatlichen Ordnung beruht, kann dieser jungen demokratisch gesonnenen Generation eine ihren Wünschen angemessene Zukunft bieten. Sie hat ein aufrichtiges Interesse am Reformprozess und wird langfristig gesehen das zukünftige politische Schicksal der Türkei bestimmen. Man kann daher mit gutem Grund davon ausgehen, dass diese Generation ungeachtet der Hürden, die ihnen die Gegner des EU-Beitritts in der Türkei und in der EU in den Weg stellen, versuchen wird, den umfassenden Reformprozess fortzusetzen.

Damit haben die Reformen in der Türkei aber eine innere Dynamik erreicht, die auch eine zunehmende Veränderung der politischen Kultur des Landes erwarten lässt. Es ist eine neue Generation von Türken, welche die formalen Reformen in die demokratische Alltagspraxis überführen muss Das Verbot der DP, eine Partei, die den EU-Reformprozess des Landes uneingeschränkt unterstützt hatte, weist aber eindeutig darauf hin, dass dieser innenpolitische Kampf zwischen demokratischen und autoritären politischen Kräften bisher keineswegs entschieden ist. Mit dem Verbot der demokratischen politischen Interessenvertretung der Kurden gelang es dem Justizapparat, die jüngste Initiative der Regierung Erdoğan zur Lösung des Kurdenkonflikts zu untergraben. Zusammen mit Ahmet Türk, dem Parteichef der DTP, diskutierte Premierminister Erdoğan im Sommer 2009 eine so genannte „kurdische Initiative“, welche weitgehende kulturelle Autonomierechte sowie eine Amnestie für ehemalige PKK Mitglieder in Aussicht stellte, die dem bewaffneten Kampf gegen den türkischen Staat eine Absage erteilt hätten. Diese Perspektive ist auch mit dem Verbot der DTP noch nicht verschlossen.

Die zweite Amtszeit von Recep Tayyip Erdoğan hat aber auch Zweifel aufkommen lassen, ob denn die AKP selbst an einer fortgesetzten Demokratisierung des Landes interessiert sei. Zu Beginn des Jahres 2010 jedenfalls schienen die Reformdynamik der Regierung Erdoğan und die Verhandlungen zwischen Ankara und Brüssel an einem Tiefpunkt angelangt zu sein. Die mit viel Reformelan angetretene und nach Europa orientierte AKP hat sich inzwischen zu einer Partei gewandelt, in der sich vermehrt europaskeptische Stimmen vernehmen lassen. Wohl bezeichnete der sich seit Mai 2009 im Amt befindliche Außenminister und vormalige Professor für Internationale Politik, Ahmet Davutoğlu, den EU Beitritt der Türkei nach wie vor als die erste Priorität der türkischen Außenpolitik, ein außenpolitisches Ziel aber, das die Regierung nicht mehr so kompromisslos verfolgen zu scheint, wie während ihrer ersten Amtszeit nach dem Wahlsieg vom November 2002. Es ist unzweifelhaft, dass dieser Gesinnungswandel auch ein Resultat der türkeiskeptischen Äußerungen von so wichtigen europäischen Politikern wie dem französischen Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy und von Bundeskanzlerin Angela Merkel ist.

In diesem Kontext ist es von eminenter Bedeutung, dass die Beitrittsverhandlungen zwischen der EU und der Türkei mit neuem Leben erfüllt werden. Noch immer ist die Perspektive eines türkischen EU-Beitritts einer der wichtigsten Anreize für die politischen und staatlichen Eliten des Landes, sich an den demokratischen Spielregeln der europäischen Politik zu orientieren. Trotz der auch in den kommenden Jahren zu erwartenden schweren innenpolitischen Machtkämpfe besteht aber die begründete Zuversicht, dass sich die demokratischen und pluralistischen Kräfte in der Türkei letztendlich durchsetzen werden. Das autoritäre Staatsverständnis in der politischen Kultur der Türkei, ein wirkungsmächtiges Erbe der osmanischen und kemalistischen Modernisierungspolitik, scheint sich trotz aller hier dargestellten Turbulenzen langfristig gesehen auf dem Rückzug zu befinden.

Außenpolitisch stellt sich die Frage, ob Ankara seine Potentiale nicht überdehnt. Über die politische Zukunft der Nachbarschaft sind Fragezeichen zu setzen. Das gilt vor allem für den Irak (hier hat sich die türkische Wirtschaft insbesondere in dem kurdischen Teil engagiert). Aber auch Syriens Zukunft ist nach innen wie nach außen langfristig nicht mit Bestimmtheit voraus zu sagen. Solange es keine verhandelte Lösung der Konflikte Israels mit seinen Nachbarn gibt, kann Syrien in den Ausbruch neuer Feindseligkeiten hineingezogen werden. Dies nicht zuletzt auch aufgrund seiner engen Beziehungen mit Iran. In der Auseinandersetzung Teherans mit der internationalen Gemeinschaft über die Atomfrage ist bekanntlich das letzte Wort nicht gesprochen. Eine Eskalation der Spannungen zwischen der internationalen Gemeinschaft und Teheran, mit Gewissheit aber eine militärische Konfrontation, würde auch in der Türkei zur Intensivierung islamistischer gewalthafter Aktivitäten führen. Zwar haben die türkischen Sicherheitsorgane auch in der jüngsten Zeit wieder bewiesen, dass sie auf deren Bekämpfung vorbereitet sind. Gleichwohl müsste sich Ankara im „Kampf gegen den Terrorismus“ politisch eng in den Kontext amerikanischer und europäischer Strategien einbinden. Die Spielräume für eigenständiges Handeln wären sehr gering. Einen erheblichen Rückschlag droht das wichtigste, ja spektakulärste Projekt der türkischen Außenpolitik in neuerer Zeit, der Ausgleich mit Armenien, zu erleiden. Nachdem das Verfassungsgericht in Eriwan einige Punkt der Protokolle vom Oktober 2009 für ungültig erklärt hat, könnte dem türkisch-armenischen Annäherungsprozess bis auf weiteres die Geschäftsgrundlage entzogen sein. Dass dies auch Wasser auf die Mühlen türkischer Nationalisten bedeutet, die dieser Entwicklung von Anfang an ablehnend gegenüber gestanden haben, ist unübersehbar.

Nicht zuletzt ist zu fragen, bis zu welchem Punkt sich die türkisch - israelischen Beziehungen eintrüben können, ohne dass dies bei einigen Mitgliedern der EU – Deutschland nicht ausgenommen – zu kritischen Reaktionen führt. Das Argument der Türkei – Skeptiker, dass eine Mitgliedschaft der Türkei mit den Prinzipien europäischer Politik unvereinbar sei, könnte Bestärkung finden. Mit Blick auf die Beziehungen zur EU wird schließlich auch die Bereitschaft Ankaras ins Gewicht fallen, den geforderten Schritt der Anerkennung Zyperns durch die Zustimmung zum Beitritt dieses Landes in die europäische Freihandelszone mit entsprechenden Konsequenzen für die Türkei zu tun.