Deutschland und die Türkei - Vision einer strategischen Partnerschaft - Januar 2011

Veröffentlicht: Montag, 10. Januar 2011 22:57

In Deutschland tobt eine kontroverse Debatte über das Thema einer richtigen Politik der Integration von Migranten. Bereits ein flüchtiger Blick aber auf die Substanz dieser Diskussion lässt erkennen, dass sie einen klaren Schwerpunkt hat: Es geht – fast ausschließlich – um Migranten muslimischen Glaubens; und das bedeutet im Falle Deutschlands wesentlich um Türken und Araber. Noch nie seit die Integrationsdebatte geführt wird haben sich skeptische und negative Stimmen so radikal geäußert. Das Buch von Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, (und noch radikaler dessen Äußerungen im Vorfeld der Veröffentlichung des Buches) sowie die Forderung des Vorsitzenden der Christlich-Sozialen Union (CSU), Horst Seehofer, Deutschland brauche keine Zuwanderung „aus anderen Kulturen“ (konkret: aus der Türkei und arabischen Ländern) sind Wegmarken dieser Debatte. Deutsche Leitkultur und christlich-abendländische Kultur werden wieder beschworen. Dass aus diesen Kreisen auch ein klares „nein“ zur Mitgliedschaft der Türkei in der EU kommt, verwundert nicht. Und so besteht ein Zusammenhang zwischen der Einwanderungspolitik in Deutschland und der Frage nach der Gestaltung der Beziehungen zwischen der EU und der Türkei.


Emotionale Befindlichkeiten

Eine klar gefügte und einheitlich „deutsche“ Perspektive hat es durch die Jahrzehnte der Mitgliedschaftsdebatte nicht gegeben. Betrachten wir nur die politische Klasse, so lassen sich drei Kategorien erkennen:

- die nachhaltigen Befürworter. Sie stellen die lange politische Interaktion des Osmanischen Reiches und der europäischen Mächte durch das 19. und frühe 20 Jh. heraus, verweisen auf die tief greifende Modernisierung seit dem Beginn der Türkischen Republik und die bestehende wirtschaftliche Verflechtung. In wachsendem Maße treten auch sicherheitspolitische Argumente in den Vordergrund: die Rolle der Türkei in ihrem regionalen Umfeld und die Bedeutung des Landes mit Blick auf die künftige Energieversorgung Europas.

- die Befürworter einer „privilegierten Partnerschaft“. Zahlreiche Vorbehalte – nicht zuletzt auch kultureller Natur - lassen sie zu dem Schluss kommen, dass eine Mitgliedschaft der Türkei die EU bis zum Zerbrechen belasten würde. Im Grunde aber halten sie sich die Tür offen, indem sie für die Fortführung der Verhandlungen „mit offenem Ausgang“ eintreten.

- die unzweideutigen Gegner einer Mitgliedschaft. Ihre Argumente sind vor allem kultureller Natur. Für sie ist die Türkei kein Teil Europas, sondern Teil der „islamischen Welt“. Ihre Mitgliedschaft wäre unzuträglich. Die Verhandlungen sollte abgebrochen werden. Horst Seehofers Forderung, die Einwanderung „aus anderen Kulturkreisen“ auszusetzen, ist die migrationspolitische Schlussfolgerung dieses Türkei-Pessimismus.

Aus Gründen, die tief in der deutschen Befindlichkeit und in derVerunsicherung wurzeln, die das deutsche Selbstbewusstsein in den letzten Jahren erfahren hat, wird die Debatte zum Thema „Türkei“ und „muslimische Einwanderung“ mit großer Emotionalität geführt. Emotionale Wahrnehmungen lassen rationale Argumentation zurücktreten. Das Bemühen, durch Umfragen Positionen zu erhärten, führt zu einem nicht mehr zu überschauenden Wust von „Ergebnissen“. Dies zeigt auch der dramatische Erfolg des Buches von Thilo Sarrazin. Noch nie ist in Deutschland ein Buch in so kurzer Zeit in so hoher Auflage verkauft worden. Dabei ist sein Inhalt eher statistisch trocken; sind die Ausführungen zum Islam pauschal. Was aber den Erfolg des Buches (das die meisten Käufer kaum gelesen haben dürften) programmiert hat, sind die provokanten Thesen der Interviews des Autors im Vorfeld des Erscheinens des Buches. Die an die Grenzen des Rassismus führenden Formulierungen haben die Ängste eines nicht beträchtlichen Teils der deutschen Öffentlichkeit berührt. Der Graben ist nun aufgerissen; jetzt kann man sich sicher fühlen. „Man“ weiß, wo man steht; und wen „man“ nicht möchte: Zuwanderer islamischen Glaubens, die sich – nicht zuletzt auch aus religiösen und kulturellen Gründen - nicht integrieren und mithin vornehmlich auf der Tasche der öffentlichen Sozialhaushalte liegen.

Der öffentlichen Aufwallung ist eine intellektuelle Vorarbeit voraus gegangen. Deren Protagonisten haben eine neue Spezies intellektueller Arbeit geschaffen: den „Islamkritiker“. Durch das Jahr 2010 hindurch waren die Feuilletons der Meinungsforen von „kritischen“ Ergüssen zum Thema „Islam“ besetzt. Dabei ging es nicht um eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Theologie, Geschichte oder Kultur des Islams in seiner vielfältigen Erscheinung. Es ging auch nicht um den einzelnen Muslim in seiner jeweils individuellen Existenz – den guten und bösen, den frommen Gläubigen und den Gewalttäter. Vielmehr ging es zu meist um „den Islam“, der im Licht der Gewalthaftigkeit von Muslimen am Rande islamischer Gesellschaften (mit marginalen Ablegern in Europa) essentiell und clichéehaft als mit der Moderne im Konflikt stehend dargestellt wurde. Die Befunde von Sarrazin – obwohl eigentlich in der Sache nichts Neues – ließen die tatsächlichen und vorgeblichen Integrationsdefizite zur Bestätigung der von den „Islamkritikern“ zuvor festgestellten grundsätzlichen Entwicklungsdefizite „des Islams“ werden.

Wie sehr hier der Nerv eines breiten Publikums getroffen war, ließ auch das ungeheure Echo auf die Sarrazin’schen Befunde in den Medien erkennen. Es lässt sich nicht anders als ein Ausdruck von Ängsten deuten, deren Wurzeln tief und vielfältig sind. Zusammenfassend lassen sie sich als – eingestanden oder nicht – Zweifel verstehen, dass die deutsche Gesellschaft, schrumpfend und alternd, dem langsamen Verfall ausgeliefert ist. Mit der wachsenden Präsenz von Muslimen werden alte Phobien, die aus der Geschichte daherkommen, aber lange begraben schienen, wieder lebendig: Der Islam als das Fremde weckt Ängste der Überfremdung und des Verlusts von Identität. In einem solchen Klima tritt die sachliche Auseinandersetzung mit tatsächlichen Defiziten der Integrations- und Ausländerpolitik über die Jahrzehnte zurück.

Dabei muss freilich bemerkt werden, dass es sich hierbei nicht um ein spezifisch deutsches Problem handelt. Es findet sich in zahlreichen europäischen Gesellschaften. Beispielhaft sei hier nur erinnert an den Wahlerfolg des Rechtspopulisten Geert Wilders in den Wahlen in den Niederlanden im Sommer 2010; er erklärt den Koran für ein „faschistisches Buch“, rückt es in die Nähe von Hitlers „Mein Kampf“ und fordert das Verbot des Buches. Auch in den Gemeinderatswahlen in Österreich am 10. Oktober 2010, die starke Gewinne populistischer Kräfte ergaben, scheint es auf – zum Beispiel in dem Slogan: „Sarrazin statt Muezzin“.


Die wirkliche „deutsche Perspektive“

Was folgt aus dem angedeuteten Befund für die Rolle Deutschlands mit Blick auf die Gestaltung der Beziehungen zwischen der Türkei und der EU? Eine These soll es andeuten: Der Weg der Türkei in die EU führt über Berlin Kreuzberg und Neukölln.

Diese These beinhaltet zwei Sachverhalte: Zum einen ist kaum bestreitbar, dass Deutschland als die bis auf weiteres größte Macht in der EU eine ausschlaggebende Rolle bei der Entscheidung zu spielen haben wird, welchen Status Brüssel der Türkei am Ende einzuräumen bereit sein wird. Ohne ein klares Wort aus Berlin wird es eine volle Mitgliedschaft der Türkei in der EU nicht geben.

Wo aber steht Deutschland – ein Land, in dem sich Phobien ausbreiten, die auf einem Feindbild Islam beruhen, und in dem Politiker und breite Teile der Öffentlichkeit eine Zuwanderung von Bürgern aus eben jenem Land in Frage stellen, das sich in einem Verhandlungsprozess mit der Europäischen Union befindet, der auf die Aufnahme der Türkei in diese gerichtet ist? Ein Land, in dem Politiker unumwunden feststellen, dass die Türkei nie Mitglied der EU werden könne? - Kreuzberg und Neukölln (als pars pro toto für auch andere Stadtteile in Deutschland). In ihnen werden jene Befunde identifiziert, aus denen am Ende Phobien werden: Parallelgesellschaft, Bildungsverweigerung, Kriminalität, die sich in der Wahrnehmung mit bestimmten Zügen einer „islamischen“ Sozialisierung verbindet, und hohe Sozialkosten. Hieran macht sich eine Kosten-Nutzen-Rechnung fest, nach welcher die „islamische“ Einwanderung nur geringen Nutzen, aber unverhältnismäßig hohe Kosten gebracht habe.

Vor dieser Herausforderung gibt es zwei Perspektiven auf die Zukunft des deutsch-türkischen Verhältnisses: Die eine ist die Fortschreibung des Status quo. Dann würde sich in Deutschland ein Prozess der Entfremdung beschleunigen. Die große Mehrheit von Türken und Deutschen würden beziehungslos nebeneinander leben. Darauf, was das für die gesellschaftliche Stabilität des Landes bedeuten würde, kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Zugleich aber würde auch die internationale Stellung Deutschlands als eines nach außen abweisend erscheinenden und mit seinen eigenen Problemen absorbierten Landes geschwächt. Die Türkei auf ihre Weise würde fortfahren, ihren Platz im internationalen System, insbesondere in ihrem regionalen Umfeld, neu zu bestimmen. Die Konturen einer solchen Entwicklung lassen sich durchaus bereits erkennen.

Die andere Perspektive ist die einer Vision von einer neuen Qualität der Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei. Diese Vision aber ist keine Utopie und keine Fata Morgana. Sie gründet auf einem Jahrhundert der Beziehungen zwischen beiden Ländern, die – im Überblick – als besondere Beziehungen verstanden werden können.

Die Geschichte der deutsch-türkischen Beziehungen im 20. Jahrhundert ist noch zu schreiben – und vor dem Hintergrund der Notwendigkeit der Gestaltung der Zukunft ist es höchste Zeit, dass sie geschrieben wird. Über einzelne Phasen und Aspekte dieser Geschichte ist bereits manches veröffentlicht. Wichtig ist nunmehr, die Geschichte als Kontinuum zu verstehen, ihr einen roten Faden zu geben und sie als ganzes zu bewerten. Ohne das Ergebnis dieser Arbeit zu antizipieren läge die Bilanz in der Erkenntnis, dass zwei Staaten und Gesellschaften bei aller Verschiedenheit ihrer Zivilisationen, Kulturen und – natürlich – religiösen Grundlagen immer wieder einander berührt und sich auf einander zubewegt haben. An keiner Stelle der Geschichte beider Länder sind Verwerfungen aufgetreten, die sie unabänderlich in unterschiedliche Lager gestellt hätten. Beide Länder und ihre Gesellschaften haben tief greifende Wandlungsprozesse durchlaufen, die ein positives und optimistisches Licht auf den Prozess der Integration werfen.

Diese Geschichte begänne mit der Militärmission, der wirtschaftlichen Durchdringung des Osmanischen Reiches durch Deutschland und der „Waffenbrüderschaft“ im Ersten Weltkrieg. Hierzu wird der Historiker unendlich viel Kritisches zu sagen haben; aber es ist die Geschichte zweier Völker, die in einem kritischen Stadium ihrer Existenz ein hohes Maß an Gemeinsamkeit erlebt und in ihrem kollektiven Gedächtnis abgespeichert haben. Das Ende einer Ära, das beide Völker gemeinsam erlebt haben, hat sie zu tief greifenden Prozessen der Veränderungen genötigt. Grundlagen und Dynamiken dieser Veränderung und Erneuerung weisen – bei auch tief greifenden Unterschieden – zahlreiche Gemeinsamkeiten auf. Die Aufnahme verfolgter Akademiker und Künstler seitens der Türkei in den dunklen Tagen des Nationalsozialismus dringt langsam auch tiefer in das deutsche Bewusstsein ein. Das Wirken dieser Persönlichkeiten hat im öffentlichen Leben der Türkei Spuren hinterlassen, die auch heute noch erkennbar sind.

1963 wurde zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Türkei ein Assoziierungsvertrag geschlossen. Er beinhaltete eine Perspektive der Türkei auf Mitgliedschaft. Präsident Walter Hallstein bescheinigte der Türkei, sie sei ein „Teil Europas“. Auch wenn dieser Tatbestand weit davon entfernt war, Teil des öffentlichen Bewusstseins zu sein, so war es doch die deutsche Seite, die insbesondere aus sicherheitspolitischen und strategischen Interessen darauf drängte, den für die Sicherheit des Westens so wichtigen Verbündeten auch über die Perspektive auf eine Mitgliedschaft in der EWG so fest wie möglich an das westliche Lager zu binden. Dass diese Entscheidung langfristig Deutschland ganz besonders berühren sollte, sollte sich erst Jahrzehnte später erweisen. Mit Blick auf die Europa – Perspektive der Türkei sollte Deutschland eine besondere Rolle zuwachsen.

Bereits zwei Jahre zuvor, im Jahr 1961, war das deutsch-türkische Abkommen zur Entsendung von Gastarbeitern geschlossen worden. Keiner hat wohl damals geahnt, dass es für Deutschland und die deutsch – türkischen Beziehungen schicksalhaft werden sollte. Aus den „Gastarbeitern“, von deren Rückkehr in die Türkei damals ausgegangen wurde, wurden Bürger. Deutschland wurde zu einem Einwanderungsland, ein Tatbestand, der erst nach über dreißig Jahren der Einwanderung politisch anerkannt werden sollte. Türkische Migranten zogen die besondere Aufmerksamkeit, aber auch besondere Besorgnisse auf sich. Die Integration erschien in ihrem Falle schwieriger als im Falle der Migranten aus anderen – europäischen – Ländern. Parallelgesellschaften entstanden in deutschen Großstädten; der Islam schien die Integration in besonderem Maße zu erschweren. Entsprechende Debatten wurden seit den achtziger Jahren in Politik und Öffentlichkeit geführt; sie haben in der Gegenwart (2010) besonders schrille Töne angenommen.

Zugleich aber veränderte sich Deutschland tief greifend. Die Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts, namentlich die Ersetzung des ius sanguinis (des Rechts auf die deutsche Staatsbürgerschaft für denjenigen/diejenige, der/die deutscher Herkunft ist) durch das ius soli (das Recht auf Staatsbürgerschaft für denjenigen/diejenige, der/die auf deutschem Boden geboren wird) war ein wichtiger Schritt in Richtung auf die Integration eines Teils der Gesellschaft, der seinen Ursprung außerhalb Deutschlands hat. Türkischstämmige Migranten haben davon in besonderer Weise profitiert. Wenn auch Missstände und Versäumnisse nicht klein geredet werden sollen: das Fehlen einer Einwanderungspolitik hat über Jahrzehnte einen Stau an Problemen mit sich gebracht, dessen Abarbeitung viele Jahre in Anspruch nehmen wird (darauf kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden). Dass unter den Fehlern und Versäumnissen dem Mangel an gezielten Maßnahmen von Bildung und Ausbildung ein besonderer Stellenwert zukommt, wird gegenwärtig zu recht wortreich beklagt. Dem stehen positive Entwicklungen auf Seiten der Migranten gegenüber. Unübersehbar hat sich ein Aufstieg türkischstämmiger Einwanderer in allen Teilen der Gesellschaft vollzogen. Sie stärken den Optimismus, dass es gelingt, angedeutete Probleme zu lösen. Auf der anderen Seite haben sich in Deutschland Entwicklungen vollzogen, die vor einem Jahrzehnt (und weniger) in dieser Weise kaum vorherzusehen waren. Der Islam ist sichtbar geworden; zahlreiche Moscheen wurden – trotz (allerdings am Ende begrenzter) Proteste – gebaut. Über Jahre errichtete Hürden für die Einführung eines islamischen Religionsunterrichts wurden weithin abgebaut. Um die Einrichtung von Lehrstühlen für Islamische Theologie hat geradezu ein Wettlauf zwischen Landesregierungen und Universitäten in ihrem Regierungsbereich eingesetzt.

Parallel dazu beginnt auf türkischer Seite ein Bewusstsein Platz zu greifen, dass Integration auch bedeutet, die Abhängigkeit von Strukturen und Institutionen in der Türkei abzustreifen und sich in Deutschland selbst gemäß den politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Bedürfnissen der Einwanderer zu organisieren. Dieser Prozess bedingt grundlegende Entscheidungen auf beiden Seiten: die türkische Regierung muss ihre Bereitschaft bekunden, die Migranten aus ihrer Verantwortung zu entlassen; und die deutsche Gesellschaft muss ihre Bereitschaft bezeugen, die Migranten mit ihrer eigenen Identität als Muslime aufzunehmen.

An beidem hat es über die Jahre gefehlt. Für die türkische Seite waren die in Europa (vornehmlich in Deutschland) lebenden Migranten „gurbetçi“, d.h. eigentlich bedauernswerte Menschen, für die - bis zu ihrer Rückkehr irgendwann - die Türkei so viel Verantwortung wie möglich zeigen müsse. Für die deutsche Seite waren die Türken nicht zuletzt auch aus kulturellen und religiösen Gründen unwillkommene Gäste, an deren Bereitschaft, den Werten des Grundgesetzes gemäß zu leben, ständig Zweifel entgegen zu bringen angebracht wäre.


Wandel der Wahrnehmungen

Jüngste Entwicklungen lassen hier ein grundsätzliches Umdenken erkennen: Die höchsten Repräsentanten der Türkei und Deutschlands haben in erstaunlich offener, engagierter und couragierter Weise neue Töne zur künftigen Gestaltung des Verhältnisses zwischen beiden Ländern angeschlagen. Den Anfang machte Bundespräsident Christian Wulf in seiner Rede zum zwanzigsten Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 2010, in der er mit großer Deutlichkeit feststellte, der Islam sei ein Teil Deutschlands. Eine Woche später nahm Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan bei seinem Besuch in Berlin anlässlich des Fußballländerspiels zwischen Deutschland und der Türkei um die Qualifikation zur Europameisterschaft im Jahre 2012 die Gelegenheit wahr, sich zu positionieren: Mit einer Klarheit, die man bei ihm bis dahin vermisste, rief er die türkischstämmigen Migranten zur Integration auf. Es sei selbstverständlich, dass sich die Menschen türkischer Abstammung hier in Deutschland integrierten. Wenige Tage später griff Staatspräsident Abdullah Gül in die in Deutschland geführte Integrationsdebatte ein, indem er die türkischen Migranten mahnte, Deutsch zu lernen und zwar „akzentfrei“.

Das auf diese Weise generierte konstruktive und positive Moment in den deutsch-türkischen Beziehungen war dann auch der Duktus bei dem Besuch des deutschen Bundespräsidenten in der Türkei. Als erster deutscher Bundespräsident hielt Christian Wulf eine Rede vor dem türkischen Parlament. Mit Bezug auf das deutsch-türkische Verhältnis sagte er bei dieser Gelegenheit Dinge, die in dieser Klarheit noch nicht gehört worden sind: so etwa dass die Beziehungen beider Länder so intensiv seien wie wohl noch nie in der Geschichte – ob in Politik oder Wirtschaft, in Wissenschaft oder Kunst. Die Türkei sei mit ihrem wachsenden Gewicht in der Welt „für uns ein ganz wichtiger Partner“. Vor seiner Rückreise legte er am 21. Oktober noch den Grundstein zu einer deutsch-türkischen Universität, die im Jahr 2011 ihre Arbeit aufnehmen soll.

Die genannten Entwicklungen lassen erkennen, dass sich die deutsche Gesellschaft und die Zuwanderer aus der Türkei auf dem Weg der Integration befinden. Integration ist ein Prozess, der darauf gerichtet ist zu verhindern, dass eine Gesellschaft angesichts auf sie zukommender innerer und äußerer Herausforderungen „integer“, also „ganz“ bleibt und nicht zerfällt bzw. von Spannungen zerrissen wird. In diesem Sinne anerkennen die Migranten die Grundlagen der Gesellschaft und des Staates, in die hinein sie zuwandern. Die Mehrheitsgesellschaft ihrerseits aber öffnet Räume, innerhalb derer die Zuwanderer leben können, ohne ihre Identität, die sie aus ihrem Herkunftsland mitbringen, aufgeben zu müssen. Genau darauf hat der Bundespräsident in seiner Ankaraner Rede noch einmal ausdrücklich hingewiesen.

Ein auch nur flüchtiger Blick in die deutsche Gesellschaft der Gegenwart lässt erkennen, dass sich die Stellung der Einwanderer aus der Türkei zu verändern begonnen hat. Die Statistiken zeigen, dass der Anteil derer, die Hochschulabschlüsse erstreben und erreichen, deutlich gestiegen ist. Wo immer der Blick hinfällt, sehen wir heute Migranten – nicht nur aus der Türkei -, die einen sichtbaren Status in Politik, Wirtschaft, den Medien, der Wissenschaft und in Kunst und Kultur erreicht haben.

Damit sollen die Probleme, die in der emotional geführten und zum Teil auf Clichées reduzierten Debatte zum wiederholten Male angesprochen werden, nicht unter den Teppich gekehrt werden. Wer kann übersehen, dass sich seit 1961 nach Jahrzehnten des Fehlens eines Konzepts der Zuwanderung ein Stau von Problemen angehäuft hat, der eben nur in einem langen Prozess einer rationalen Gesellschaftspolitik abgebaut werden kann. Dafür stehen Orte wie „Kreuzberg“ oder „Neukölln“.

Pakt für Entwicklung und gemeinsame Zukunft

Wenn der Weg der Türkei in die Europäische Union – dies eine „deutsche Perspektive“ – über Kreuzberg und Neukölln führt, so kann dieser Weg unter zwei Vorzeichen beschritten werden:
- einem negativ emotionalen; oder
- positiv rationalen.

Ersterer scheint unter den schrillen Tönen der Gegenwart begangen zu werden. Es ist aber ein Weg, der nirgendwohin führt. Ausgehend von einem statischen und verengten Begriff von Kultur und Identität wird nicht erkannt, dass die Moderne uns allen eine ständige Neubestimmung unserer Standorte und unserer Handlungsspielräume abverlangt; diese Herausforderung aber besteht nur, wer um die multiplen Dimensionen von kultureller Identität weiß. Die Forderung, die Einwanderung von Menschen aus „anderen Kulturen“ auszusetzen, ist der bislang weitestreichende Ausdruck von eindimensionaler Wahrnehmung der gesellschaftlichen Wirklichkeit in der Gegenwart. Unschwer aber ist erkennbar, dass dieser Weg unter jedem Aspekt in die Sackgasse führt.

Im Überblick über das zurückliegende Jahrzehnt kann festgestellt werden, dass Deutschland – bei allen Irrungen, Wirrungen und Umwegen - den positiv-rationalen Weg beschritten hat. Dafür gibt es viele Indizien. Die Wende kam mit der Anerkennung, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, und mit der Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts. Lediglich beispielhaft sei an dieser Stelle auf die Entwicklungen im Prozess der religiösen Integration der Muslime erinnert: Mag es auch im Vorfeld des Baues von Moscheen noch Unruhen geben – am Ende werden sie gebaut und finden in der Gesellschaft Akzeptanz. Und schienen noch vor wenigen Jahren dem islamischen Religionsunterricht an Schulen nahezu unüberwindliche Hindernisse entgegen zu stehen, so ist der Anspruch darauf heute weithin akzeptiert. Die theologisch-institutionelle Infrastruktur dafür wird geschaffen; der Wissenschaftsrat hat die Einrichtung von Instituten für Islamische Theologie gefordert; und Universitäten und Kultusminister befinden sich geradezu im Wettstreit, die Forderung zu verwirklichen.

Deutschland wird sich nicht abschaffen, wie es Thilo Sarrazin populistisch voraussieht; Deutschland ist dabei, sich neu zu schaffen. Das gilt nicht zuletzt auch für das Thema Einwanderung und Islam hierzulande. Auch die Türkei ist dabei, sich neu zu schaffen. Die türkische Wirtschaft gehört – im Weltmaßstab - zu den am schnellsten wachsenden. Wichtiger aber noch ist der große Fortschritt, den Staat und Gesellschaft in den letzten Jahren in Richtung auf Demokratie und Pluralität gemacht haben.

Geschichte und Gegenwart legen es nah, die Qualität der deutsch-türkischen Beziehungen neu zu reflektieren. Beide Länder sind technologie- und wissensorientiert. Deutschland hat einen hohen Standard technologischen Wissens erreicht, den es an die Türkei weitergeben kann. Die Türkei hat ein großes Potential an jungen Menschen und potentiellen Fachkräften, die Deutschland dringend benötigt. Dies und vieles andere deutet darauf hin, dass sich beide Länder in einem „Pakt für Entwicklung und gemeinsame Zukunft“ verbinden sollten.

In dieser Perspektive kommt Deutschland eine besondere Rolle im Prozess der weiteren Annäherung der Türkei an die Europäische Union zu. Bundespräsident Wulf hat dies in seiner Rede vor dem türkischen Parlament eingeräumt. Es gilt, die Dynamik des Prozesses der Integration – im skizzierten Sinne – türkischstämmiger Migranten in Deutschland (und anderswo in Europa) auf die Ebene der Gestaltung der künftigen Beziehungen zwischen der Türkei und der Europäischen Union zu projizieren.