Saudi-Arabien – ein Machtkampf um die Zukunft des Landes - Februar 2018

Veröffentlicht: Mittwoch, 28. Februar 2018 12:59

 

Zusammenfassung: Die Verhaftung von 208 hochrangigen Persönlichkeiten (seither sind es mehr geworden) am 5. November 2017 unter dem Verdacht der Korruption lässt erkennen, dass die Herrschaft der Familie Sa’ud starken politischen Herausforderungen gegenübersteht. Die Art und Weise, in der sich der Sohn von König Salman, Muhammad bin Salman (MbS), seit April 2015 als alleiniger Kronprinz durchgesetzt hat, widerspricht den in der Familie Sa’ud traditionellen Regelungen der Nachfolge. Sie trägt alle Züge eines Machtkampfes.

Für die Außen- und Innenpolitik des Landes unter König Salman (seit Januar 2015) trägt MbS wesentlich die Verantwortung. Die außenpolitische Bilanz ist negativ: Im Mittelpunkt steht die machtpolitische Rivalität mit dem schiitischen Iran. Auf den verschiedenen Schauplätzen, d. h. im Jemen, in Qatar, Syrien und dem Libanon hat Saudi-Arabien den Kürzeren gezogen. In der Innenpolitik ist die Bilanz gemischt: Die Frauen und die Jugend sind Zielgruppen einer Reihe von Veränderungen gewesen. Das ist positiv aufgenommen worden. Kritiker aber ganz unterschiedlicher Couleur der außen- und innenpolitischen Entscheidungen sind 2017 verhaftet worden.

Solange König Salman, der sich einer breiten Beliebtheit erfreut, regiert, werden die Widerstände nicht an der Oberfläche ausgetragen. Mit dem Ende der Herrschaft Salmans aber werden sie offen zutage treten. Es ist keineswegs sicher, dass Kronprinz MbS die Nachfolge wirklich antritt. Die Auseinandersetzungen darüber könnten das Königreich destabilisieren.

Die Veränderungen in Saudi-Arabien werden nicht ohne Auswirkungen auf die Beziehungen zwischen dem Königreich und dem Westen bleiben.



Im Januar 2015 hat Salman Ibn Abd al-Aziz die Nachfolge seines Halbbruders Abdallah als König von Saudi-Arabien angetreten. In den drei Jahren seiner Herrschaft haben sich in dem Land Veränderungen vollzogen, die Beobachter bei seinem Amtsantritt nicht für möglich gehalten hätten. Deren politischer Höhepunkt war die Verhaftung von 208 hochrangigen Persönlichkeiten wegen des Verdachts auf Korruption und Veruntreuung öffentlicher Gelder am 5. November 2017 – unter ihnen bekannte Prinzen des Hauses Sa‘ud, amtierende und frühere Minister sowie prominente Geschäftsleute. Obwohl sich (bis Februar 2018) die meisten nach der Zahlung von insgesamt Milliarden von Dollars wieder auf freiem Fuß befinden und das Hotel Ritz Carlton, in dem sie interniert waren, wieder den üblichen Gästen geöffnet ist, weist der Schlag Züge eines Machtkampfes im Königreich auf.

Dieses spektakuläre Ereignis hat nur die Spitze des Eisbergs der Herausforderungen erkennen lassen, denen sich das Königreich gegenüber sieht. Er signalisiert den am tiefsten greifenden Umbau von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft seit der Gründung des Königreichs im Jahr 1932. Von der Frage, ob dieser Umbau gelingt oder nicht, hängt nicht nur die Stabilität Saudi-Arabiens ab; sie hat nachhaltige Auswirkungen auf die Stabilität und Sicherheit der Golfregion und des Mittleren Ostens insgesamt. Angesichts der Rolle des Landes auf dem Welt-Energiemarkt und der engen politischen Partnerschaft mit dem Westen haben die Entwicklungen in Saudi-Arabien auch eine globale Dimension.

Spätestens die Unruhen, zu denen es 2011 im Zusammenhang mit dem „arabischen Frühling“ auch in Saudi-Arabien gekommen war, hatten erkennen lassen, dass der Zustand des Landes nicht nur oberflächlicher Kosmetik, sondern tiefgreifender Veränderungen der politischen Institutionen, der Wirtschaftsordnung und der gesellschaftlichen Traditionen bedarf. Wer würde dies leisten können? Die alte Garde der Söhne des Staatsgründers bot keine verheißungsvolle Perspektive. Salman war 80 Jahre, als er die Nachfolge seines Halbbruders Abdallah antrat, der im Alter von 91 gestorben war.

Von Winston Churchill stammt die Beschreibung des Kreml als „a riddle wrapped in a mystery inside an enigma“. Dies trifft auch auf das Königshaus in Saudi-Arabien zu. Und so bleibt vorläufig im Dunkeln, was in der Familie Sa‘ud im Zeitraum zwischen April 2015 und Juni 2017 in der Auseinandersetzung um die Nachfolge König Salmans gelaufen ist. Die Schritte waren dramatisch: Zunächst war Muqrin bin Abd al-Aziz (geboren 1945), ein jüngerer Bruder Salmans, als Kronprinz designiert worden. Das war mit den Regeln konform, die für die Designierung des Kronprinzen durch Generationen hindurch gegolten hatten. Im April 2015 verschwand Muqrin in der Versenkung. An seine Stelle trat Innenminister Muhammad bin Nayef (geboren 1959); stellvertretender Kronprinz wurde Muhammad bin Salman (MbS; geboren 1985). Damit war mit einem Schlag die Thronfolge aus der Generation der Söhne des Staatsgründers in die Generation der Enkel verlegt. Klar war aber bereits damals, dass die Macht bei MbS liegen würde. Denn er war nicht nur der Sohn des Königs, sondern zugleich Verteidigungsminister und Vorsitzender des „Hohen Rates für Wirtschaft und Entwicklung“ und damit für die Umsetzung der Agenda 2030 verantwortlich, die einen weitreichenden Umbau der saudischen Wirtschaft anstrebt. Im Juni 2017 schließlich erfolgte der nächste Schlag: Muhammad bin Nayef wurde als Kronprinz ausgeschaltet und Muhammad bin Salman allein als Kronprinz designiert. Damit ist der 32-jährige nach dem König der mächtigste Mann in Saudi-Arabien.

Die Vorgänge im Zusammenhang mit der Thronfolge sind in der Geschichte des saudischen Königshauses präzedenzlos. In der Vergangenheit wurden Differenzen innerhalb der Familie im Konsens überwunden. Zuständig war der House of Saud’s allegiance council of senior Princes. Der steile Aufstieg von MbS innerhalb von zwei Jahren trägt Züge eines Machtkampfes. Die Ereignisse vom 5. November 2017 bestätigen diese Einschätzung.

Seit der Machtübernahme König Salmans im Januar 2015 steht die Außen- und Innenpolitik Saudi- Arabiens unter dem starken Einfluss seines Sohnes Muhammad. Kern seiner Außenpolitik ist die machtpolitische Auseinandersetzung mit dem schiitischen Rivalen Iran. Auf allen Schauplätzen dieser saudisch-iranischen Konfrontation hat Saudi-Arabien an Boden verloren. Das gilt für den Krieg im Jemen, das Ringen um die Herrschaft in Damaskus, die Konfrontation mit Qatar und die Einmischung im Libanon. Die Annäherung an Israel hat durch die Ankündigung Präsident Trumps, die amerikanische Botschaft nach Jerusalem zu verlegen, einen Rückschlag erlitten. Der saudischen Politik ist es bisher nicht gelungen, Iran auf dem Weg zu regionaler Vorherrschaft zu stoppen. Die außenpolitische Bilanz des Kronprinzen ist negativ.

Schwerer zu bewerten sind die Entscheidungen auf dem Gebiet der Innen- und Gesellschaftspolitik. Sie richten sich an zwei Gruppen der Gesellschaft: die Jugend und die Frauen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 25 Jahre; die Jugendarbeitslosigkeit (14-24 Jahre) liegt zwischen 30 bis 40 Prozent. Viele haben im Ausland studiert. Sie verstehen sich als Akteure einer globalisierten Welt und verändern die traditionelle Diskurslandschaft in Saudi-Arabien. Soziale Medien sind zu einem Ersatz für fehlende öffentliche Räume geworden. 2016 nutzten 59 Prozent der saudischen Bevölkerung soziale Netzwerke. In diesen virtuellen Räumen finden Debatten um wirtschaftliche Perspektivlosigkeit, soziale Missstände oder religiöse Vorstellungen statt und verändern die saudische Öffentlichkeit.

Der Kampf gegen die Korruption und die Zulassung öffentlicher Kinos finden unter der Jugend verbreitete Zustimmung. Für viele ist MbS ein Hoffnungsträger.

Auch unter den Frauen ist ein Druckpotential entstanden, auf das die Politik reagieren muss. Viele von ihnen entstammen der gebildeten Mittel- und Oberschicht und prägen den sozialen und wirtschaftlichen Wandel. Bereits König Abdallah hatte Reformen eingeleitet: 30 der 150 Mitglieder der Beratenden Versammlung (madschlis al-shura) sind Frauen; 2015 durften Frauen zum ersten Mal aktiv und passiv an den Gemeinderatswahlen teilnehmen und immer mehr Berufszweige werden für Frauen geöffnet. Dass ihnen ab Mitte 2018 erlaubt ist, selbst Auto zu fahren und Sportveranstaltungen an öffentlichen Plätzen zu besuchen, ist ein symbolischer Hinweis darauf, dass sie begonnen haben, sich in der von Männern dominierten saudischen Gesellschaft zu emanzipieren.

Die Veränderung der Stellung der Frauen in der saudischen Gesellschaft stößt bei den Vertretern der wahhabitischen Staatsreligion auf besonderes Misstrauen. An diesem Punkt hat das religiöse Establishment in der Vergangenheit stets besonders konservative Positionen bezogen. Im Oktober 2017 kündigte MbS an, Saudi-Arabien werde zu einem gemäßigten Islam zurückkehren. Das war überraschend, denn bislang galt der saudische (wahhabitische) Islam als extrem konservativ und intolerant. Von vielen Experten wurde er mit dem Entstehen des dschihadistischen lslam in Verbindung gebracht. Was berechtigt MbS, der keine theologische Qualifikation hat, nunmehr dazu, das religiöse Establishment herauszufordern und die Rolle eines islamischen Reformators zu spielen? Die Verbindung der wahhabitischen Gelehrten (Al al-shaikh)mit der Familie Sa’ud (Al Sa‘ud) ist seit der Gründung des saudischen Staates Mitte des 18. Jahrhunderts die stärkste Säule der Herrschaft der Sa’ud und der Stabilität des saudischen Staates.

Tatsächlich sind die außen- und innenpolitischen Entscheidungen seit dem Frühjahr 2015 innerhalb der politischen und intellektuellen Elite auf erheblichen Widerstand gestoßen. Zwei Monate vor dem 5. November war es bereits zu einer Verhaftungswelle gekommen. Von ihr waren Personen betroffen, die als Menschenrechtler, Richter, Religionsgelehrte, Universitätsdozenten, Kolumnisten oder Schriftsteller die öffentliche Diskussion in Saudi-Arabien mitprägen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie wegen kritischer Äußerungen zur saudischen Religions-, Außen- oder gelockerten Frauenpolitik in Ungnade gefallen sind. Oder dass sie Sympathien für Organisationen oder Länder hegen, gegen die das Könighaus massiv vorgeht, wie etwa die Muslimbrüder und den sie unterstützenden Golfstaat Qatar, der von Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain und Ägypten boykottiert wird.

Der Umbau Saudi-Arabiens, den Kronprinz MbS betreibt, geht also keineswegs reibungslos über die Bühne. Hinter den Kulissen gibt es Widerstände. Sie betreffen die staatlichen Institutionen, das Machtgefüge im Königshaus, die religiöse Legitimation des Herrschaftssystems und die Außenpolitik. Auch der Umbau des Wirtschaftssystems, der auf größere Unabhängigkeit von Öl und Gas hinausläuft, stößt auf Kritik und Widerstand.

Szenarien

Solange König Salman, der sich breiter Beliebtheit erfreut, regiert, werden die Konflikte nicht auf offener Bühne ausgetragen. Seine Abdankung oder sein Tod aber werden eine einschneidende Zäsur in der Geschichte des Königreichs bedeuten. Vier Szenarien lassen sich antizipieren:


Die Zeiten, in denen sich Saudi-Arabien als ein wohlhabendes, stabiles, von einer als legitim akzeptierten Dynastie regiertes Land präsentieren konnte, sind vorüber. Das Land muss sich neu erfinden. Das ist ein Prozess, der nicht konfliktfrei verlaufen wird. Dabei stehen zwei Herausforderungen im Vordergrund, die miteinander verbunden sind: Die Wirtschaft aus der Abhängigkeit von Erdöl und Erdgas zu lösen und auf eine neue Grundlage zu stellen. Und der Jugend eine Perspektive in Wirtschaft und Politik zu eröffnen, die sie aus der Rolle von Untertanen befreit und an der Gestaltung der Zukunft Saudi-Arabiens teilhaben lässt.

Die Qualität der Beziehungen zwischen dem Königreich und dem Westen wird sich im Sinne größerer Distanz verändern müssen. Auch in der saudi-arabischen Führung wird ein Kurswechsel im Sinne einer Diversifizierung der außenpolitischen Beziehungen an: Der Besuch von König Salman in Moskau im Oktober 2017, der erste Besuch eines Saudischen Herrschers in der russischen Hauptstadt überhaupt, ist diesbezüglich ein deutliches Indiz.


Udo Steinbach