Iran und die Zukunft des Atomabkommens - April 2019

Veröffentlicht: Samstag, 06. April 2019 11:18

Der Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen mit Iran vom Juli 2015 (Joint Comprehensive Plan of Action; JCPOA) setzt die Regierung von Präsident Hasan Rouhani  geführte Regierung massiv unter Druck. Aber werden die mit dem Ausstieg verbundenen umfassenden Sanktionen das politische System verändern? Wird es gar zu dem regime change kommen, auf den die amerikanische Politik hinsteuert?  

Der Abschluss des Atomabkommens bedeutete für Rouhani einen Eckstein im Gebäude seiner Innen- und Außenpolitik. Er war 2013 als Präsidentschaftskandidat mit dem Versprechen angetreten, den über ein Jahrzehnt andauernden Streit um Irans Nuklearprogramm zu beenden. Ein Ende des Atomkonflikts würde den Weg für die Normalisierung der Beziehungen Irans zum Westen ebnen. Zugleich wäre er die Voraussetzung für die im Wahlkampf versprochene innenpolitische Liberalisierung.

Tatsächlich hatte JCPOA auf iranischer Seite die Erwartungen erfüllt. Außenpolitisch war das Land seither in ein Netzwerk multilateraler Beziehungen eingebunden. In diesem Kontext waren auch Gespräche mit den USA möglich geworden. Die Verhandlungen zwischen den Außenministern John Kerry und Javad Zarif beendeten die Kontaktsperre zwischen Teheran und Washington auf höchster diplomatischer Ebene. Wirtschaftlich verbanden sich mit dem Abkommen nach der weitgehenden Aufhebung der Sanktionen die Erwartungen eines großen Sprungs nach vorn. Innenpolitisch unterstützte eine breite Mehrheit der Iraner das Ergebnis der Verhandlungen in der Erwartung von Fortschritten bei der Verwirklichung von Bürgerrechten.

Vor diesem Hintergrund wurde Ruhani 2017 für eine zweite Amtszeit gewählt.

Die Entwicklungen nach der Wiederwahl Ruhanis waren für die Mehrheit der Iraner eine Enttäuschung. Mit dem Amtsantritt Präsident Trumps im Januar 2017, der bereits im Wahlkampf das JCPOA den schlechtesten Deal aller Zeiten genannt hatte, waren die Hoffnungen auf eine Verbesserung der iranisch-amerikanischen Beziehungen eingetrübt. Die Hardliner in Teheran, die  das Atomabkommen von Anfang als Kniefall vor den USA kritisiert hatten, provozierten die internationale Gemeinschaft. Sie verstärkten das militärische Engagement der Revolutionsgarden (pasdaran) in Syrien und arbeiteten betont provokativ an einem Raketenprogramm. Die wirtschaftliche Öffnung nach dem Ende der Sanktionen kam beim Bürger nicht an. Die Diskussion über Korruption und Geldwäsche im Parlament und in der Öffentlichkeit blieb folgenlos. Und bei der Verbesserung der Bürgerrechte gab es keine Fortschritte.

Seit Ende 2017 wurden Proteste und Demonstrationen eine Erscheinung des iranischen Alltags: Arbeiter beklagten ausbleibende Gehälter; Taxifahrer forderten ein soziales Sicherheitsnetz; Bürger klagten, ein Vermögen verloren zu haben, da undurchsichtige Kreditinstitute und Banken ihr Geld veruntreut hätten; protestiert wurde auch gegen bedrohliche Veränderungen der Umwelt, insbesondere die Wasserknappheit.

Unter dem Eindruck der amerikanischen Sanktionsdrohungen hat sich die Wirtschaftslage 2018 dramatisch verschlechtert. Zwischen April und Oktober verlor die iranische Währung 70% ihres Werts gegenüber dem US-Dollar; die Inflationsrate liegt bei etwa 30%. Die ausländischen Investitionen bleiben aus. Fast alle ausländischen Konzerne, die nach dem Abschluss des Atomabkommens in der Erwartung auf einen wirtschaftlichen Neubeginn nach Iran gekommen waren, haben sich zurückgezogen. Sie fürchten um ihre Geschäfte mit den USA.

Vor diesem Hintergrund lassen zwei zeitgleiche Ereignisse erkennen, wie hart in Teheran um die künftige innen- und außenpolitische Linie gekämpft wird: die Rücktrittserklärung von Außenminister Zarif und der Kurzbesuch des syrischen Staatspräsidenten Bashar al-Asad am 25. Januar. Bei diesem Besuch war der Außenminister nicht anwesend – wohl aber der Kommandeur der al-Quds Brigade der Revolutionsgarden, Qassem Sulaimani, der als der Architekt der militärischen Präsenz Irans in Syrien gilt. Damit war eine klare Botschaft gesendet: Iran wird sich nicht amerikanischem Druck beugen – weder mit Blick auf das Atomabkommen noch mit Blick auf die Politik Teherans im Nahen Osten, d.h. vor allem in Syrien.

Für die konkreten politischen Entwicklungen lassen sich folgende Szenarien absehen:

Szenario 1: Im Inneren werden die Hardliner deutlich an Gewicht gewinnen.

Diese Entwicklung wird sich aber unterhalb der Schwelle einer direkten Machtübernahme durch die Revolutionsgarden vollziehen. Die Verschärfung der wirtschaftlichen und sozialen Spannungen, die sich in den Protesten der Vergangenheit entladen haben, hat das Regime nicht ernsthaft gefährdet. Es hat darauf mit einer Mischung von Repression und Zugeständnissen reagiert.

Die mit den amerikanischen Sanktionen entstandene Lage ist für die Bevölkerung der Islamischen Republik keine neue Erfahrung. Der Golfkrieg, der mit dem Überfall des Diktators Saddam Husain im Herbst 1980 begann, ließ die Menschen zusammenstehen. Die Bevölkerung, die zuvor durch die Revolution tief gespalten war, rückte im Widerstand gegen die Aggression, hinter der auch große Teile der internationalen Gemeinschaft standen, zusammen. Angesichts der Isolierung Irans musste das Regime eigene wirtschaftliche und militärische Ressourcen mobilisieren. Als der Krieg nach acht Jahren beendet wurde, war die Islamische Republik gefestigter als zu Beginn des Krieges.

Trotz der antiwestlichen Rhetorik der Hardliner, die in der internationalen Presse Aufmerksamkeit finden, richtet sich der Blick der Mehrheit der Iraner nach Westen. Das haben sie gezeigt, als sie Muhammad Khatami (1997-2005) und Hasan Rouhani (seit 2013) zu Staatspräsidenten wählten. Aber Drohungen und Erpressung, insbesondere durch die USA, lassen sie die Reihen als iranische Nation schließen.

Auch angesichts des starken wirtschaftlichen Drucks besteht auf Seiten der Mehrheit der Bürger  keine  Stimmung für einen revolutionären Umbruch um jeden Preis. 48,9% der Bevölkerung sind zwischen 25 und 54 Jahre alt. 40,5 der insgesamt 83 Millionen Iraner sind also in einem Alter, in dem die meisten eine Familie gegründet haben und einer Arbeit nachgehen. Diese mit Abstand größte Altersgruppe stellt 72% der insgesamt 54,4 Millionen Wahlberechtigten. Sie sind an Stabilität interessiert. Ein Netzwerk von Wohlfahrtseinrichtungen und Stiftungen greift Hilfsbedürftigen unter die Armee, wo die Wirtschaftspolitik der Regierung versagt.

Auch unter den Hardlinern überwiegen die Pragmatiker. Sie haben gelernt, politische Unterdrückung  mit kalkulierten gesellschaftlichen Konzessionen an die Bürger, nicht zuletzt auch an die Frauen, zu kompensieren. So wurde während der Fußball-Weltmeisterschaft in Russland im Juni 2018 das erste Mal Frauen Zugang zum Azadi-Stadion in Teheran gewährt. Es wurden mehr Konzerte, Theateraufführungen, Kunstausstellungen und Bücherfestivals organisiert und per staatliche Lizenz genehmigt als je zuvor in der Geschichte der Islamischen Republik. Zugleich aber nehmen Berichte über Repression gegen Künstler, Journalisten und Studenten nicht ab. Die Botschaft ist, das Regime sucht einen Weg, die Bevölkerung zufrieden zu halten, während sie gleichzeitig entschlossen ist, den Machterhalt zu sichern.

Auf diese Weise kann  - wenigstens für die Dauer der Krise – die Kluft zwischen der Not der Bevölkerung auf der einen und dem auf Vetternwirtschaft und korrupten Netzwerken beruhenden Wohlstand breiter Teile der politischen Klasse überspielt werden. Proteste wird es auch künftig geben; zu politischen Explosionen, die das System gefährden, wird es aber nicht kommen.

Szenario 2: Iran hält an dem Atomabkommen fest

Die Aufkündigung des JCPOA durch den amerikanischen Präsidenten hat der Führung in Teheran vor Augen geführt, dass multilaterale Verträge, an denen die westliche Vormacht beteiligt ist, keine verlässliche Grundlage für die Sicherheit Irans darstellen. Damit ist die Politik Präsident Rouhanis gescheitert, die äußere Sicherheit Irans und die Innenpolitik von einander abzukoppeln. Für Rouhani  hatte das Abkommen die Voraussetzung sein sollen, im Inneren Schritte der politischen Liberalisierung, der Reform des Wirtschaftssystems und der Bekämpfung der Korruption zu unternehmen.

Unter den mit der Kündigung des Abkommens veränderten Rahmenbedingungen sind eine Politik repressiver Geschlossenheit nach innen und eine Projektion militärischer Stärke nach außen wieder miteinander verknüpft. Jetzt fühlen sich die Hardliner bestätigt, die Reformen im Inneren ebenso abgelehnt haben wie eine Politik des Dialogs und der Verhandlungen mit dem Westen. Auch Rouhani  selbst ist in den letzten Wochen wieder auf die Hardliner zugegangen.

Trotz des inneren Drucks hält Rouhani an dem Abkommen fest. Darin wird er von der Europäischen Union unterstützt. Diese hat mit Instex (Instrument in Support of Trade Exchanges) ein Instrument geschaffen, das es möglich machen soll, trotz der amerikanischen Sanktionen wenigstens in begrenztem Umfang den Handel mit Iran aufrecht zu halten. Auf diese Weise kann Öl für humanitäre Güter (Lebensmittel, Medikamente, medizinische Geräte) und europäische Industriegüter getauscht werden, ohne US-Dollar zu verwenden oder das US-Finanzsystem durchlaufen zu müssen. Das ermöglicht Präsident Ruhani eine Gratwanderung: Auf der einen Seite muss er den Hardlinern entgegenkommen; auf der anderen Seite kann er mit Hinweis auf die Unterstützung  seitens der EU an dem Atomabkommen festhalten.  

Vor diesem Hintergrund war die Verwirrung um den Rücktritt von Außenminister Zarif symptomatisch: Für die Hardliner des Regimes ist er  ein rotes Tuch; für die Europäische Union ist er das freundliche Gesicht Irans. Indem Rouhani seinen Rücktritt nicht annahm, konnte er Signale nach beiden Seiten senden: Den Hardlinern im Inneren konnte er signalisieren, dass ihm bewusst ist, dass es mit Zarif ein Problem gibt; der EU gab er zu verstehen, dass ihm weiterhin an der Unterstützung für seine Politik gelegen und er entschlossen ist, die Entscheidung über die Zukunft des Nuklearabkommens offen zu halten.

Gemeinsam ist allen Akteuren in Teheran, Stärke und Entschlossenheit gegenüber den USA – und das bedeutet zugleich: gegenüber Israel, dem engsten Verbündeten Washingtons in der Region – zu zeigen. Das beinhaltet eine martialische Rhetorik wie die Drohung Rouhanis, Iran könne die Meerenge von Hormuz sperren; ebenso wie starke militärische Gesten wie die provozierende Offenlegung des Programms der Entwicklung von Mittel- und Langstreckenraketen. Und das beinhaltet die anhaltende Unterstützung des engsten Verbündeten Irans im Nahen Osten, des Regimes von Baschar al-Asad. Dessen Besuch in Teheran sollte diese Entschlossenheit bestätigen.

Mit der Verbindung einer repressiveren Politik im Inneren, die darauf gerichtet ist, politische und soziale Unruhen zu unterdrücken, einer Demonstration des Widerstands gegen die USA und des Festhaltens am Atomabkommen, um ein Minimum an internationalen Kontakten zu bewahren, könnte Rouhani bis an das Ende seiner Amtszeit 2021 durchhalten. Das dürfte für ihn auch deshalb von  Bedeutung sein, da ihm der Ehrgeiz nachgesagt wird, Ambitionen auf die Nachfolge des Revolutionsführers Ayatollah Khamene’i zu hegen.

Szenario 3: Iran kündigt das Atomabkommen

An dem Atomabkommen festzuhalten, bedeutet für Teheran eine innen- und außenpolitische Gratwanderung. Der Absturz könnte Folge sowohl innen- als auch außenpolitischer Veränderungen sein. Innenpolitisch setzen die Hardliner alles daran, sich machtpolitisch in die Lage zu versetzen, das Atomprogramm zu kündigen. Der Druck von ihrer Seite, das Verfahren der Anreicherung des Atoms wieder zu beschleunigen, um die internationale Gemeinschaft zu provozieren, wächst.

Außenpolitisch sind rote Linien gezogen, deren Überschreitung einer Kündigung des Atomabkommens gleichkäme. Diese betreffen das Raketenprogramm, die militärischen Aktivitäten der Revolutionsgarden in Syrien, das Auftreten der Hizbollah im Libanon sowie militärische Aktivitäten am Persischen Golf und eine Eskalation der Konfrontation mit Saudi Arabien. Diese roten Linien zu überschreiten, würde machtvolle Reaktionen von Seiten Israels und der USA bedeuten. Damit würde das Abkommen de facto oder de jure hinfällig.

Im Falle einer Aufkündigung des Atomabkommens von Seiten Irans wächst die Kriegsgefahr im Nahen Osten. Die Genugtuung, die der israelische Ministerpräsident Netanyahu bei der Ankündigung des Rücktritts von Außenminister Zarif an den Tag gelegt hat, war ein Bekenntnis, dass er in dem Abkommen und seinem iranischen Architekten, Außenminister Javad Zarif, eine Gefahr für die Sicherheit Israels sieht. Netanyahu bevorzugt eine klare Frontlinie zwischen Israel und Iran. Darin ist er sich mit Präsident Donald Trump einig. Israel wird jeden Druck aufbauen, um die Regierung in Teheran dazu zu bringen, seinerseits das Atomabkommen zu beenden. Dann würde auch die vermittelnde Position der EU unhaltbar. Die Hardliner in Teheran, Jerusalem und Washington würden die Agenda bestimmen.

Szenario 4: Die Perspektive eines regionalen Ausgleichs

Wie jede politische Krise enthält die Krise um das Atomabkommen ein Moment überraschender – auch positiver - Elemente. Das seit Jahren bestehende System politischer Allianzen im Nahen Osten ist in Bewegung geraten. Nicht nur haben sich Israel und eine Reihe arabischer Staaten am Golf einander angenähert. Auch haben sie begonnen sich mit dem Gedanken anzufreunden, dass das Regime von Bashar al-Asad den Krieg überlebt. Nach jahrelanger Feindseligkeit planen die Vereinigten Arabischen Emirate, ihre Beziehungen zu Damaskus wieder aufzunehmen. Das bedeutet aber zugleich eine Annäherung an Teheran, das Asad seit Beginn des Krieges nachhaltig unterstützt hat. Von diesem Punkt aus könnte eine Dynamik eines regionalen Ausgleichs zwischen Iran und seinem geopolitischen Umfeld entstehen. Mit einer solchen win-win-Situation der Regionalmächte im Nahen Osten könnte auch Israel leben. Washington stünde vor der Alternative, sich entweder im Nahen Osten in der Isolierung wiederzufinden oder konstruktiv an einer Neuordnung der regionalen Mächtekonstellation mitzuarbeiten.

Eine solche Entwicklung freilich hätte einen Verlierer: die Menschen- und Bürgerrechte. Aber angesichts der chaotischen Großwetterlage im  Nahen Osten könnte das den wichtigsten Akteuren dort ein vertretbares Opfer erscheinen.

Udo Steinbach