Deutsche Nahostpolitik am Scheideweg? - November 2019

Veröffentlicht: Sonntag, 03. November 2019 14:40

 

Am 21. Oktober hat die deutsche Ministerin für Verteidigung einen internationalen Militäreinsatz im Norden Syriens vorgeschlagen. Sie forderte die „Schaffung einer international kontrollierten Sicherheitszone unter Einbeziehung der Türkei und Russlands“. Ist damit eine Wende der deutschen Nahostpolitik eingeleitet?

Der Weg ins Abseits

Mit einer Mischung von Defaitismus und Ratlosigkeit  beklagen gegenwärtig führende deutsche Politiker angesichts der chaotischen politischen Lage im Nahen Osten den Tatbestand, dass Deutschland  - und die Europäische Union – ohne Einfluss auf der Seitenlinie stehe. Deutschland (und Europa) hätten keinen Hebel, einen Beitrag zur Lösung der Konflikte in und um Syrien sowie in anderen Teilen des Nahen Ostens zu leisten.

Eine späte Einsicht. Der Schock von 9/11 hatte Deutschland im Zusammenhang des war on terrorism an die Seite der USA treten lassen. Dieses Bündnis aber war mit der amerikanischen Invasion im Irak 2003 schnell zerfallen. Die Tatsache, dass sich Deutschland der Invasion nicht anschloss, ließ die Erwartung steigen, dass Berlin und seine europäischen Partner nach Wegen suchen würden, im Nahen Osten eine eigenständige Politik zu verfolgen. Dies schien umso mehr angezeigt, als Präsident Obama entschlossen war, die USA aus dem Nahen Osten zurückzuziehen.

Auf der positiven Seite der Bilanz deutscher Politik in diesen Jahren sind die Verhandlungen um ein Atomabkommen mit Iran zu verzeichnen. Der Abschluss des Joint Comprehensive Plan of Action (Juli 2015) zwischen Iran und der internationalen Gemeinschaft war ein Erfolg der europäischen – auch der deutschen Verhandlungspartner. Auf der negativen Seite ist festzustellen, dass die Verhandlungen um einen Beitritt der Türkei zur EU seit 2005 – auch auf Betreiben der deutschen Seite - widersprüchlich geführt wurden:  Der Türkei auch bei erfolgreichen Verhandlungen nur eine „privilegierte Partnerschaft“ anzubieten, musste in Ankara Frustration und europakritische Reaktionen hervorrufen.

Auch im israelisch-palästinensischen Konflikt zeigte sich die EU unentschlossen. Der fortgesetzten Siedlungstätigkeit der israelischen Regierung begegneten Berlin und Brüssel mit unwirksamen Appellen ohne politische Wirkung. Hier wirkte nicht zuletzt das Dogma der deutschen Regierung nach, Deutschland dürfe vor dem Hintergrund seiner Geschichte Israel keine Vorschriften machen.

Der Ausbruch des Konflikts in Syrien im März 2011 hat die Handlungsfähigkeit der deutschen Regierung völlig überfordert. Gleichzeitig isolierte sich Berlin, als es sich in der Abstimmung am 17. März 2011 im UNO Sicherheitsrat, in der es um die Autorisierung eines Militäreinsatzes in Libyen zur Errichtung einer Flugverbotszone und zum Schutz der libyschen Zivilbevölkerung mit militärischen Mitteln ging, enthielt.

Mit Blick auf die Eskalation des Konflikts in Syrien tat sich in Berlin ein Widerspruch auf: Auf der einen Seite wurden 2012 die diplomatischen Beziehungen mit Damaskus abgebrochen und dem Regime von Präsident Bashar al-Asad die Legitimation, das Land zu regieren, abgesprochen. Auf der anderen Seite machte die deutsche Regierung keinerlei Anstrengungen, den Druck auf diesen zu erhöhen und zu einem Machtwechsel in Damaskus beizutragen. Insbesondere ließ Berlin das Drängen des – damaligen - türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan, eine Flugverbotszone über Syrien und eine protection zone an der türkisch-syrischen Grenze einzurichten,  ins Leere laufen.

Mit der Ausrufung des  Islamischen Kalifats im Juni 2014 wurde im Nahen Osten eine weitere militärische Front eröffnet. Wie zahlreiche andere Staaten beteiligte sich Berlin am Krieg gegen den dschihadistischen „Staat“. Tornado  Kampfjets wurden zur Luftaufklärung eingesetzt; und deutsche Ausbilder  sollten im kurdischen Teil des Irak  die Schlagkraft der kurdischen Pischmerga verbessern. Mit Blick aber auf die Lösung der syrischen Staatskrise beschränkte sich die deutsche Regierung auf die Unterstützung des – hoffnungslos ohnmächtigen - Sonderbeauftragten für Syrien bei der UNO in Genf.

Mit dem Beginn der militärischen russischen Unterstützung des Regimes von Bashar al-Asad durch Russland und der Präsenz russischer Soldaten auf syrischem Boden verlor Deutschland – und mit ihm die EU – zunehmend  jeden Einfluss auf die Entwicklungen in Syrien. Eine respektable humanitäre Hilfe (bis heute ca. 3 Milliarden Dollar) wurde zum Feigenblatt für mangelndes Engagement bei einer Neuordnung Syriens.

Frustriert über die westliche Staatengemeinschaft hatte sich der türkische Präsident Erdoğan seit 2016 Russland angenähert. Nachdem er seinem Ziel eines regime change in Damaskus nicht näher gekommen war, war der Kampf gegen den „kurdischen Terrorismus“ zum Hauptziel seiner Politik geworden. Seit 2016 begann er, eine Schutzzone zwischen dem von Kurden bewohnten Norden Syriens und der Türkei einzurichten. Aus Berlin war umso weniger an Kritik zu vernehmen, als sich die deutsche Regierung mit einem im März 2016 geschlossenen deal zur Begrenzung der Flüchtlingsbewegung aus der Türkei zur Geisel der Politik des türkischen Präsidenten gemacht hatte.

Nach dem Schock in Berlin – Szenarien und Perspektiven

Drei Entwicklungen im Nahen Osten haben in Berlin Schockwellen ausgelöst. Die Flüchtlingswelle, die 2015/16 über Deutschland hereingebrochen ist.  Die Aufkündigung des Atomabkommens mit Iran durch Präsident Trump im Mai 2018 und der Einmarsch der Türkei in die kurdischen Gebiete östlich des Euphrat im Oktober 2019. So unterschiedlich diese Entwicklungen sind, so haben sie mit erschreckender Deutlichkeit die Ohnmacht Deutschlands und Europas offenbart, in einer Region von unmittelbarer Bedeutung für seine Sicherheit im Sinne deutscher/europäischer Interessen zu handeln. Im Kampf gegen den Islamischen Staat seit 2014 hatte sich die kurdische Miliz der Volksverteidigungseinheiten (YPG) – mit amerikanischer militärischer Unterstützung – ausgezeichnet. Nach dem Rückzug der amerikanischen Soldaten aus Nordsyrien blieben die Kurden ohne Schutz gegen den Expansionismus Ankaras im Nahen Osten. Der „völkerrechtswidrige Angriff“, wie er in Berlin gesehen wird, hat in der politischen Klasse zugleich Empörung und Scham ausgelöst.

Vor diesem Hintergrund hat der politische Vorstoß der deutschen Ministerin für Verteidigung, Annegret Kramp-Karrenbauer, Signalcharakter. Denn der Vorstoß kommt zwar überraschend nach Zeitpunkt und Inhalt; er kann aber auch als Ergebnis eines langen Reflexionsprozesses gesehen werden, der in Berlin mit Blick auf die deutsche Außenpolitik insgesamt, insbesondere auch mit Blick auf den Einsatz militärischer Instrumente in Krisenregionen, die für die Sicherheit Deutschlands relevant sind, seit längerem geführt wird.

An diesem Punkt zeichnen sich mehrere Szenarien und Perspektiven ab.

  • Die deutsche Politik bleibt bei ihrer Zurückhaltung eines aktiven Engagements in den Krisen und Konflikten der Nachbarregionen Nordafrika und Nahe Osten, insbesondere wenn dieses Engagement einen Einsatz deutscher Soldaten beinhaltet. Damit wird weiterhin  eine Stimmung in der Öffentlichkeit bedient, die militärischen Einsätzen im Rahmen der Einhegung bzw. Beendigung von Konflikten skeptisch bis ablehnend gegenübersteht. Ohne zu differenzieren, werden in der öffentlichen Debatte die militärischen Interventionen des Westens in Afghanistan, im Irak und in Libyen als gescheitert bezeichnet. Dieses „Scheitern“ verbiete – so das Argument - auch eine Intervention in Syrien und anderswo im Nahen Osten. Wenn es die Solidarität mit anderen westlichen Staaten unvermeidbar macht, dann kann gegebenenfalls eine Mission ohne Kampfauftrag wie etwa die Entsendung von Aufklärungstornados oder militärischen Ausbildern entsandt werden.

    Diese Haltung hat Deutschland an den Rand des Geschehens versetzt.  Alle anderen Akteure in den Konflikten im Nahen Osten, nicht zuletzt in Syrien, haben skrupellos militärische Instrumente zur Durchsetzung ihrer Interessen eingesetzt. Es ist paradox, dass Deutschland, das im Unterschied zu diesen auf soft diplomacy setzt, von den Auswirkungen der Konflikte in Gestalt des Andrangs von Flüchtlingen am härtesten betroffen ist.

  • Dem passiven steht das aktive Szenario gegenüber: Berlin ist bereit, gemeinsam mit Verbündeten in die Krisen und Konflikte im Nahen Osten einzugreifen und die Region - ggf. auch mit militärischen Instrumenten - zu stabilisieren.

    Dies würde ein weitreichendes Umdenken breiter Teile der Öffentlichkeit, der Medien und der politischen Klasse voraussetzen.

    Seit Jahren ist das Thema eines stärkeren Engagements Deutschlands in Krisengebieten ein Gegenstand der Reden deutscher Spitzenpolitiker. Bislang freilich ist es dabei geblieben; konkrete Schritte wurden nicht getan.

    Mit Blick auf den Nahen  Osten ist noch immer die Überzeugung weit verbreitet, dass es Sache der USA sei, für Stabilität in der Region zu sorgen. Dies ist zum Teil eine Folge der Tatsache, dass Deutschland seit dem Ende des Osmanischen Reiches keine eigenständigen Interessen verfolgt hat. Zum anderen hat sich Deutschland aus historischen Gründen größte Zurückhaltung auferlegt, wenn es um Stellungnahmen zur Politik Israels geht.

    Eine aktivere deutsche Politik im Nahen Osten in Verbindung mit einer militärischen Komponente müsste ein Umdenken auch mit Blick auf die Bundesswehr beinhalten. Der weithin beklagte defizitäre Zustand der deutschen Armee ist ein Symptom für die geringe Einschätzung der Bedeutung von Einsätzen des Militärs bei der Wahrung deutscher sicherheitspolitischer Interessen allgemein. Nur zögerlich reagiert Berlin auf den amerikanischen Druck, dem NATO-Ziel näher zu kommen, zwei Prozent  des Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung auszugeben. Und auch das Argument, dass sich Deutschland als wirtschaftlicher „Exportweltmeister“ stärker in Krisen engagieren müsse, wirkt in Berlin bislang noch wenig mobilisierend.

    Es ist bezeichnend, dass die kritischen Reaktionen auf den Vorstoß von Frau Kramp Karrenbauer sofort die Feststellung aufkommen ließ, dass die Bundeswehr auf eine solche Intervention in keiner Weise vorbereitet sei.

    Wie planlos und widersprüchlich die politische Klasse in Berlin mit Blick auf die Interessen Deutschlands im Nahen Osten agiert, zeigt die Rüstungsexportpolitik der Regierung. Die Entscheidungen werden eher populistisch mit Blick auf die Öffentlichkeit und die Medien als konzeptuell begründet gefällt. Beispiele der jüngsten Zeit sind selektive Restriktionen bei Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien und in die Türkei. Ohne jeden Bezug zu politischen Rahmenbedingungen und selten kritisiert sind die Waffenlieferungen nach Israel.

Deutsche Politik am Scheideweg

Eine Änderung der Berliner Nahostpolitik ist also nur auf einem langen Weg zu erwarten. Aber immerhin: Der Vorstoß der Verteidigungsministerin ist auch dann signifikant, wenn weiterhin business as usual angesagt ist. Zu den kleinen Schritten, die auf diesem Weg erkennbar sind, gehören Grundsatzreden führender Politiker, hartnäckige (wenn auch wenig erfolgreiche) Bemühungen, das Atomankommen mit Iran zu retten, und eine erkennbare – wenn auch nicht laut geäußerte -  Frustration über die Politik Israels in den besetzten palästinensischen Gebieten.

 Auch verfestigt sich in Berlin die Einsicht, dass die USA nicht mehr ein verlässlicher Partner im Nahen Osten sind und dass deutsche (europäische) Interessen im Nahen Osten in wachsendem Maße divergieren. Die politische Klasse und die Medien haben erkannt, dass die Krisen und Konflikte vor ihrer Haustür einen sich dramatisch verstärkenden unmittelbaren Einfluss auf die äußere und innere Sicherheit sowie die innenpolitische Stabilität des Landes haben. Die dschihadistische Gewalt ist noch lange nicht besiegt; und Flüchtlinge und Asylsuchende bleiben eine Herausforderung der Zukunft. In wie unmittelbarem Verhältnis die Konflikte im Nahen Osten und die Migration nach Deutschland stehen, hat die jüngste Invasion der Türkei in Syrien einmal mehr offenbart: Mit der Verschärfung des Konflikts zwischen Türken und Kurden sowohl innerhalb wie außerhalb der Türkei, ist die Zahl der in Deutschland Asyl suchenden Kurden deutlich gestiegen. Damit vertieft sich zugleich die Kluft zwischen Türken und Kurden in Deutschland und wächst die Gefahr, dass der kurdisch-türkische Konflikt wieder auf deutschen Straßen ausgetragen wird.

Die nächste Fluchtwelle aus der Region ist programmiert: Seit Jahren warnen die Vereinten Nationen – auch in Gestalt des Generalsekretärs -, dass im Jahr 2020 Gaza unbewohnbar werde. Die Katastrophe in Gaza ist nur zu vermeiden, wenn es zu einer umfassenden Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts kommt. Dies aber wird ohne Druck auf beide Konfliktparteien nicht zu erreichen sein. Noch stößt das in Regierung und Parlament in Berlin auf Zurückhaltung. In der Öffentlichkeit breitet sich demgegenüber seit langem Frustration darüber aus, dass  die israelische Besatzungspolitik permanent gegen die Prinzipien der Humanität und des Völkerrechts verstößt, zu denen sich die deutsche Außenpolitik bekennt. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Politik dieser Stimmung in der Öffentlichkeit Rechnung trägt. Dies umso mehr, als ein Teil des grassierenden Antisemitismus und der Gewaltakte gegen jüdische Mitbürger in Deutschland dem Zorn junger Menschen,  die im Nahen Osten ihre Wurzeln haben, auf die Gewalttätigkeit der Besatzungsmacht zuzuschreiben ist.

Die Antwort Deutschlands auf die tiefgreifenden Krisen im Nahen Osten muss eine umfassende Revision der deutschen Nahostpolitik sein. Diese Einsicht dringt langsam bis in die Spitzen der deutschen Politik durch. Die Frage ist nur, wann diese Einsicht in konkretes politisches Handeln umgesetzt wird.


Udo Steinbach