Nahost heute - der lange Weg in's Chaos - Januar 2020

Veröffentlicht: Mittwoch, 15. Januar 2020 20:09

 

Die Feststellung ist schon fast eine Banalität: Im Rückblick auf die letzten 25 Jahre bedeutete das Ende der Sowjetunion eine Zäsur - für den Nahen Osten wie für den Rest der Welt. Auch in der Ära des Ost-West Konflikts war der Begriff des „Pulverfasses“ ein gängiges Epitheton dieser Region. Aber die Rivalität der Supermächte strukturierte die Qualität der Regimes und stellte die Stabilität der Grenzen sicher. Dass sich freilich etwa ein Jahrzehnt vor dem „offiziellen“ Ende der globalen Großwetterlage zwei Revolutionen ereigneten – in Iran und Afghanistan, die nicht mehr von den Supermächten kontrolliert werden konnten, warf einen langen Schatten anhaltender Instabilität voraus. Die neue Epoche – so der amerikanische Politikwissenschaftler Samuel Huntington 1993 in der Zeitschrift Foreign Affairs würde durch einen „clash of civilisations“ gekennzeichnet sein.

Verpasste Weichenstellungen

Wie wenig die Beteiligten die neue Lage, die 1990 entstanden war, verstanden, kann an zwei Punkten festgemacht werden. Zum einen am Überfall Saddam Husains auf seinen Nachbarn Kuwait. Der irakische Diktator hatte die Veränderungen nicht auf dem Schirm und glaubte noch immer, freie Hand zu haben. In Washington aber sah sich Präsident George Bush senior als Prophet einer „neuen Weltordnung“. Wie unzureichend freilich – und das ist der zweite Punkt – der Präsident auf die neue Ära vorbereitet war, zeigte sich, als er versagte, nach der Vertreibung Saddam Husains aus Kuwait jenseits eines double containment Irans und des Irak etwas Zukunftsweisendes zustande zu bringen. Gleichzeitig führte sein Nachfolger Bill Clinton den palästinensisch-israelischen Konflikt nach anfänglichen Erfolgen in eine Sackgasse, in der ihn dessen Nachfolger, George W. Bush Junior, immer tiefer verstrickte. Derweil hatten die unheilvollen Kräfte, die aus der islamischen Religion eine ideologische Rechtfertigung des gewalthaften Dschihad machten, begonnen, wie ein Krebsgeschwür den Raum zwischen Pakistan und dem Maghreb zu zersetzen.

Die Reaktion der USA und weitester Teile der internationalen Gemeinschaft auf den Donnerschlag der Terrorangriffe vom 11. September 2001 hat den gesamten Nahen Osten und Nordafrika auf eine schräge Ebene gebracht. Die Auseinandersetzung mit den militanten – gerade auch dschihadistischen – islamischen Organisationen wurde ausschließlich auf der militärischen Ebene geführt. Wie in den Zeiten des Ost-West Konflikts zerfiel die Welt wieder in „gut“ und „böse“: Dem „Westen“ – diesmal als moralisch-politische Größe verstanden - stand die Welt der „islamistischen Terroristen“ gegenüber. Der Islam insgesamt wurde dämonisiert als eine Religion, die den Werten der Demokratie und Menschenrechte sowie umfassender wirtschaftlicher Entwicklung, kurz: der Moderne, entgegenstehe. Auch wenn es immer wieder bestritten wurde: In der Wahrnehmung einer breiten Öffentlichkeit in Europa und den USA schien sich das Paradigma Samuel Huntingtons bestätigt zu haben.

Das Jahr 2003 wird in die Geschichte des Nahen Ostens eingehen. Auf gefälschte Zeugnisse gestützt, die u. a. die Verbindung des irakischen Diktators Saddam Husain mit dem internationalen Terrorismus „beweisen“ sollten, intervenierte eine internationale Truppe, angeführt von den USA, im Irak. Mit dem Sturz der Diktatoren würde der Weg frei für die Demokratie; den Terroristen würden moralische Rechtfertigung und logistische Unterstützung abgeschnitten werden. Der Fehler aber in der Rechnung war, dass die Intervention zwar den Diktator stürzte, zugleich aber die Grundlage jeder staatlichen Struktur und des gesellschaftlichen Zusammenhalts zerstörte. Einem Ableger der Terrororganisation al-Qa’ida war nunmehr der Weg in das Herz des arabischen Raumes geöffnet.

Acht Jahre nach diesem fehlgeschlagenen verhängnisvollen Versuch, den Nahen Osten durch eine auswärtige Intervention tiefgreifend zu verändern, sollte sich zeigen, dass die Menschen selbst entschlossen waren, sich von den alten Ordnungen – repressiv und korrupt wie sie waren – zu befreien. Der Funke einer Selbstverbrennung eines Gemüsehändlers in der öden Mitte Tunesiens im Dezember 2010 genügte, den ganzen Heuhaufen zu entzünden. Der „Heuhaufen“ – das waren alle Regimes zwischen Marokko und Oman, die den Druck ihrer Bevölkerungen – in sehr unterschiedlicher Form und mit sehr verschiedenen Resultaten – zu spüren bekamen. Der Slogan der Proteste war der Ruf nach Würde; ihre Forderungen richteten sich auf Verfassungen und Wahlen - kurz: auf demokratische Teilhabe am politischen Geschick ihrer Länder. Der Druck ging von den Menschen auf der Straße aus. Nirgendwo war der Ruf nach dschihad, einer „islamischen Ordnung“ oder der „Souveränität Gottes“ zu hören. In Tunesien, Ägypten, Libyen und Jemen machte man sich auf den Weg zu neuen, demokratischen Ordnungen; anderswo kam es wenigstens zu ersten Reformen.

Einschneidende politische Veränderungen traten in Libyen, Tunesien, Ägypten und dem Jemen ein. Es begann ein Ringen zwischen unterschiedlichen politischen und weltanschaulichen Kräften. Säkulare und religiös-islamische Kräfte trachteten nach der Gunst der Wähler; nicht geschlagen aber waren auch die Reste der alten, soeben gestürzten Regimes. Auswärtige Mächte mischten sich ein; in Bahrain kam es zu einer von Saudi-Arabien angeführten bewaffneten Intervention des Golfkooperationsrates. 2013 zeichnete sich ab, dass dieser Anlauf der Massen, die arabische Welt zu verändern, vorerst in eine Sackgasse geraten war. In Libyen standen sich säkulare und islamistische Kräfte gegenüber und rangen unversöhnlich um die Macht in Tripolis. In Kairo wurde Muhammad Mursi 2012 zum ersten gewählten Präsidenten in der Geschichte des Landes. Als er auf dem Ticket der Muslimbruderschaft an die Macht kam, versprach er, der Präsident aller Ägypter zu sein. Er löste aber sein Versprechen nicht ein, sondern begann. die Institutionen des Staates islamistisch zu unterwandern. In der dadurch angeheizten dramatischen Polarisierung der Bevölkerung putsche das Militär im Juli 2013 und brachte in General as-Sisi einen neuen Diktator an die Macht. Im Jemen wurde die Arbeit des nach dem Sturz von Diktator Ali Abdullah Salih eingesetzten Versöhnungsrates sowohl durch die Kräfte des alten Regimes als auch durch eine schiitische Miliz aus dem Norden des Landes 2013 beendet. In den folgenden Jahren führte die Einmischung Saudi-Arabiens und der Vereinigten Arabischen Emirate auf der einen und Irans auf der anderen Seite zu einem vollständigen Zusammenbruch des jemenitischen Staates.

Nur in Tunesien hat die arabische Revolte eine positive Wendung genommen. Die in der Verfassung vom Januar 1914 etablierte Demokratie ist freilich durch die schwierige wirtschaftliche Lage des Landes und seiner Bürger gefährdet.

Das Verhängnis von außen

Der härteste Stoß aber gegen die arabische politische Ordnung war von außen eingeleitet worden. Die von den USA geführte Allianz, die im März/April 2003 den Sturz des irakischen Diktators Saddam Husain zum Ziel hatte, brachte nicht nur dessen Regime zu Fall, sondern zerstörte die Fundamente des irakischen Staates insgesamt. Auf der Grundlage einer 2005 per Referendum angenommenen neuen Verfassung hätte Nuri al-Maliki, der 2006 das Amt des Ministerpräsidenten übernahm, die Chance gehabt, die Ethnien und Konfessionen im Lande mit einander zu versöhnen. Er hat sie nicht genutzt; stattdessen verfolgte er eine Politik zugunsten der schiitisch-arabischen Mehrheit im Lande. Die arabisch-sunnitische Minderheit, die bis zum Sturz Saddam Husains seit den Tagen des Osmanischen Reiches die Macht ausgeübt hatte, wurde marginalisiert. Ein Ableger von al-Qa’ida in Afghanistan fand ihre Anhängerschaft nicht zuletzt unter Elementen der radikalisierten arabischen Sunniten. Angeführt von verborgenen Resten der alten Führungskader Saddam Husains begannen sie mit dem Aufbau eines eigenen „islamischen“ Staates.

Die Umstände spielten ihnen in die Hände. Denn im März 2011 hatte der Aufstand in Syrien begonnen. Anders als in Tunesien oder Ägypten verteidigte die Armee das Regime Baschar al-Asads mit allen Mitteln. Je tiefer das Land in einen Bürgerkrieg abrutschte, umso mehr intensiver wurde es Schauplatz regionaler Machtkämpfe. Iran und Saudi-Arabien, die Türkei, einige Golfstaaten und Israel suchten über lokale Proxies, ihre Rivalitäten auf syrischem Boden auszutragen. Der Einsatz der russischen Luftwaffe und von Bodentruppen schließlich verhinderte den Zusammenbruch des Regimes und verlängerte die Kämpfe.

In diesem Chaos griff der auf irakischem Boden im Entstehen begriffene „Islamische Staat“ auf das Territorium des zerfallenden syrischen Staates über. Als im Juni 2014 ein ansonsten unbekannter Geistlicher im syrischen Raqqa das „Islamische Kalifat“ ausrief, umfasste dessen Gebiet weite Teile des westlichen Irak (einschließlich Mosul) sowie Zentral- und Ost-Syriens. Erst im März 2019 konnte dessen letzte Bastionen erobert werden. In diesem halben Jahrzehnt hat die dschihadistische Organisation eine Spur der Gewalt und der Verwüstung nicht nur in seinem Herrschaftsgebiet, sondern in weiten Teilen der islamischen Welt hinterlassen. Der blutige Terror wurde auch in die benachbarten Regionen Afrikas, Asiens und Europas getragen. Neben der politischen und menschlichen Tragödie wurden von den Fanatikern zahlreiche Zeugnisse und Monumente vornehmlich aus vorislamischer Zeit zerstört.

Auch eine Katastrophe der Kultur und Zivilisation

Die politische Abwärtsspirale des Raumes zwischen dem Atlantik und Afghanistan seit den neunziger Jahren hat diesen zugleich zu einem geistigen und kulturellen Vakuum werden lassen. Die Revolution in Iran an der Schwelle dieses Zeitraums hatte die Hoffnung aufkeimen lassen, dass die Gesellschaften des gesamten Raums - je nach ihren politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Tradtionen und Rahmenbedingungen in ein neues Zeitalter eintreten lassen würde. Aber für die von Präsident Bush senior 1990/91 verkündete „neue Weltordnung“ waren weder die Eliten der Region noch auch die politischen Führungen vorbereitet. Die „Islamische Republik Iran“ mutierte zu einem System, das sich in erster Linie durch Repression und Korruption auszeichnete. Öffentliche und private Institutionen in den von Rohstoffen gesegneten arabischen Staaten unterstützten aus unterschiedlichen Interessen und Motiven die diversen Gruppierungen in der dschihadistischen Bewegung. Auf diese Weise suchten sie den Wandlungsprozess zu unterdrücken, der sich in der „arabischen Revolte“ seit 2011 angekündigt hatte. Zugleich tappten – vornehmlich der schiitische Iran und die sunnitischen Golfstaaten - in die Falle konfessionalistischer Politik, mit der sie ihren Machtanspruch zu legitimieren trachteten. Das schuf neue Konflikte zwischen dem Libanon und dem Jemen.

Auf der Zustimmung seitens der Bürger beruhende Legitimation und Stabilität wurden Fremdworte für fast alle Regimes der Region. Im Falle Saudi-Arabiens hatte das gravierende Folgen: Hinter der Fassade scheinbarer Stabilität geriet das Land in die größte Krise seit der Gründung des Königreichs. In seiner Reaktion auf diesen Tatbestand verstrickt sich der Thronfolger und starke Mann hinter dem König in einen inneren Machtkampf und auswärtige Konflikte, die die Krise der gesamten Region weiter vertiefen.

Von der Krise der gesamten Region glaubten zwei Mächte an ihren Rändern zu profitieren: die Türkei und Israel. Verführt von dem politischen Vakuum in seiner Nachbarschaft begann Ankara, postosmanische Träume zu träumen und sich in die Geschicke seiner Nachbarstaaten einzumischen. Schritt um Schritt versinkt die Türkei im Treibsand der politischen Verwerfungen seiner Nachbarn. In der dritten Invasion im Nachbarland Syrien, die im Oktober 2019 begann, wird das Ausmaß an Selbstüberschätzung und Isolation deutlich, die das Land zunehmend von Europa entfernt und zu einem Irrlicht im Chaos des Nahen Ostens machen.

Vor diesem Hintergrund scheint Israel als der Gewinner auf dem Schachbrett der Politik des Nahen Ostens. Wer spricht heute von Palästina? Tatsächlich spielen sich die wirkungsmächtigen Konflikte nicht mehr am Mittelmeer, sondern am Golf ab. Dies aber heißt zu kurz denken. Die ungezügelte kolonialistische Siedlungspolitik hat die Kapazitäten des Landes, seine Existenz aus eigener Kraft zu sichern, bis aufs äußerste angespannt. Seine Zukunft hängt wesentlich von Entscheidungen ab, die in Washington getroffen werden. Die Arroganz der Macht lässt die israelische Regierung übersehen, dass sich der politische Wind drehen könnte - ja in Europa bereits gedreht hat. Gerade in der chaotischen Situation der Gegenwart im Nahen Osten ist die Gefahr angelegt, dass militante Kräfte mobilmachen, gegen die sich das Land nur schwer verteidigen könnte.

Auch die muslimischen Eliten müssen mit Blick auf die Zukunft ihrer Länder umdenken. Dies in dreifacher Weise: zum einen wirtschaftlich. Trotz eines langfristigen Rückgangs der Preise für Erdöl und-gas bleiben die rohstoffreichen arabischen Staaten relativ wohlhabend. Damit sind sie in die Lage versetzt, ärmeren Ländern, mit denen sie die Sprache, die Religion und viele Eigentümlichkeiten der Kultur teilen, unter die Arme zu greifen. Solange sie aber horrende Beträge ihres Einkommens für Waffen, die sie nicht bedienen können, und Prestigeprojekte wie Super-Sportveranstaltungen hinauswerfen, vertieft sich die Kluft zu den ärmeren Gesellschaften; damit wächst der Neid unter den Habenichtsen. Das vertieft die Konfliktlinien. Intraregionale Zusammenarbeit ist eine Voraussetzung langfristiger Stabilität.

Das berührt die zweite grundsätzliche Herausforderung: Wenn es nicht gelingt, das dramatische Bevölkerungswachstum einzudämmen, werden breite Teile der Bevölkerung zwischen Marokko und dem Golf weiter verarmen. Das macht Erlösungsillusionen religiösen Charakters attraktiv. Der breite Zulauf zu radikalen dschihadistischen Organisationen seit den neunziger Jahren hat einen Vorgeschmack gegeben, welche Formen von Konflikten und Instabilitäten zu erwarten sind. Maßnahmen der Einhegung des Bevölkerungswachstums aber implizieren – drittens – eine offene Diskussion über die Rolle der Religion in der Gesellschaft. Jeder Gesellschaft in den Ländern zwischen Nordafrika und dem Indischen Ozean liegen – neben Gemeinsamkeiten – eigene religiöse und kulturelle Traditionen zugrunde. Sie können nicht ignoriert werden. Diesen aber treten Erfordernisse an die Seite, die mit der politischen und wirtschaftlichen Modernisierung verbunden sind. Dazu gehört die Frage nach der Rolle der Religion in den islamischen Gesellschaften der Zukunft. Die Verquickung von Religion und Politik, wie sie seit dem Beginn der siebziger Jahre zunehmend praktiziert worden ist, war eine der Ursachen für die Krise des letzten Vierteljahrhunderts. Dazu bedarf es aber der Wiederkehr einer Denk- und Meinungsvielfalt und -freiheit, wie es sie noch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gegeben hat. Auch die Gewalt gegen das freie Denken ist ein Faktor bei der Erklärung des politischen und kulturellen Niedergangs weitester Teile des Nahen Ostens.

Noch ist möglicherweise der Tiefpunkt des Abwärtssogs nicht erreicht. So heißt über die Zukunft des Nahen Ostens sprechen, über eine Utopie nachdenken. 1919 wurde in Paris über die Geschicke Europas ebenso entschieden wie über die Zukunft des Nahen Ostens. Europa driftete rasch in die größte Katastrophe seiner Geschichte. Die gegenwärtige Krise des Nahen Ostens verstehen wir auch als eine späte Nachwirkung der in Paris getroffenen Entscheidungen. Aus dem Zusammenbruch des alten ist nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein neues Europa hervorgegangen. Wer hätte das 1945 gedacht! So ist die Hoffnung nicht ganz unbegründet, dass aus der gegenwärtigen Krise auch im Nahen Osten eine neue politische und geistige Landschaft entstehen kann.

Udo Steinbach