Der Nahe Osten
Der Nahe Osten - wie ich ihn sehe:
Eine Herausforderung für Politik und Wissenschaft
Die Massenproteste im arabischen Raum, die im Dezember 2010 im Herzen Tunesiens ausbrachen und in der Folgezeit den ganzen Nahen Osten und Nordafrika erschütterten, stellen eine Zäsur in der Geschichte des Raumes zwischen Marokko und dem Indischen Ozean dar. Weit davon entfernt ein „Frühling“ zu sein, waren sie ein tektonisches Beben: Einige Gebäude sind zusammengebrochen, andere haben schwere Schäden davongetragen. Einige wenige scheinen die Erschütterung schadlos überstanden zu haben; doch ist ihren Bewohnern der Schreck in die Glieder gefahren und sie suchen das alte Gemäuer zu stabilisieren, um es gegen den nächsten tektonischen Stoß abzusichern.
Das signifikanteste Ergebnis des teilweise chaotischen Geschehens war die Ausrufung des Islamischen Kalifats im Sommer 2014. Auch nach dessen gewaltsamer Auflösung fünf Jahre später hält die tiefe Krise der Region an. Ihre Komponenten sind die folgenden:
- Unter den politischen Eliten gibt es keine „Vision von Morgen“, d.h. keine langfristig tragfähige Idee von einem Gemeinwesen, das auf Freiheit, Gerechtigkeit, Teilhabe und Wohlfahrt der Bürger ausgerichtet ist. In Abwesenheit einer solchen suchen die Regierenden sowohl die Rechtfertigung ihrer Herrschaft als auch die Abwehr von Gefahren für diese in der Einmischung in anderen Staaten der Region und/oder den Konflikt mit diesen.
- Es gibt keinen Konsens hinsichtlich der regionalen balance of power bzw. einer staatenübergreifend anerkannten Strategie des Ausgleichs widerstreitender Interessen und der Beilegung von Konflikten. Jeder Staat definiert seine politischen, sicherheitspolitischen und wirtschaftlichen Ziele ohne Rücksicht auf andere. Die Instrumentalisierung der Religion zur Rechtfertigung machtpolitischer Interessen wirkt dabei konfliktverschärfend.
- Internationale Mächte haben keinen stabilisierenden Einfluss mehr in der und auf die Region. Dies war – mit vielen Abstrichen – in der Hochzeit des amerikanisch-sowjetischen bipolaren Herrschaftssystems der Fall; und nach dem Ende der Sowjetunion hatte sich ein Fenster der Gelegenheit für die USA geöffnet, den Weg für eine Neuordnung und Stabilisierung der Region zu ebnen. Sie wurde in Washington nicht wahrgenommen. Gegenwärtig spielen Washington und Moskau ihre Karten über jeweilige proxies aus; die Europäische Union hat sich selbst zu politischer Ohnmacht verdammt.
Das Geschehen, das die Staaten und Gesellschaften in die Krise geführt hat, lässt sich nachzeichnen. Vom „neuen Nahen Osten“ zu sprechen, heißt demgegenüber, eine Utopie (von griechisch ou-topos; ein „Nicht-Ort“) zu entwickeln. Für den Weg, der von der Utopie in eine neue politische Wirklichkeit führt, lassen sich folgende Eckpunkte einer roadmap festhalten:
- Donald Trump als Chance begreifen. Der amerikanische Präsident hat in seiner Präsidentschaft (2017-2021) im Nahen Osten großen Schaden angerichtet. Aber im Kern hat er die Politik seines Vorgängers fortgesetzt, die USA aus dem Nahen Osten zurückzuziehen. Damit öffnen sich für Europa die Tore zu einer neuen Partnerschaft mit einer Region, mit der es – im Guten wie im Schlechten - durch die Geschichte hindurch aufs Engste verbunden ist. Diese Partnerschaft muss von der Einsicht geleitet sein, dass die Stellung Europas im internationalen System des 21. Jahrhunderts wesentlich von der Qualität der Beziehungen zu seiner islamischen Nachbarschaft abhängen wird. Gemeinsamkeit statt Abschottung; eine inklusive anstelle einer exklusiven Qualität der Interaktion ist angesagt.
- Russland im Nahen Osten als Partner gewinnen. Spätestens seit dem 18. Jahrhundert ist Russland eine Nahostmacht. Vor diesem Hintergrund war es ein Fehler, nach dem Ende der Sowjetunion Moskau im Nahen Osten zu marginalisieren. Das geopolitische Dreieck Europa – Naher Osten - Russland beinhaltet enorme politische, wirtschaftliche und kulturelle Potentiale von globaler Dimension.
- Mit Iran einen politischen Ausgleich auf Augenhöhe suchen. Ohne den konstruktiven Beitrag Irans wird keine stabile Sicherheitsarchitektur im Nahen Osten zustande kommen. Das Atomabkommen von 2015 (Joint Comprehensive Plan of Action) war ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Der Anspruch auf Unabhängigkeit und Gleichberechtigung des Landes in der internationalen Gemeinschaft war der Kern der Revolution von 1978/79 und ist die tiefste Triebkraft der Politik Teherans bis in die Gegenwart.
- Die Beziehungen zwischen Iran und Saudi-Arabien normalisieren. Die Konfrontation zwischen beiden Staaten ist machtpolitischer, nicht religiöser Natur. Auf der Grundlage gemeinsamer politischer und wirtschaftlicher Interessen (Erdöl) haben beide Staaten (trotz der sunnitisch-schiitischen Differenz) über Jahrzehnte friedlich koexistiert. Der politische Ausgleich ist auch die Voraussetzung, den Geist des Konfessionalismus wieder in die Flasche zu bannen.
- Die Türkei in den europäischen Orbit zurückbringen. Die in den letzten Jahren eingetretene Entfremdung hat die politische Stellung beider Seiten geschwächt: Ankara sitzt regional und international zwischen den Stühlen; Europas Potentiale, im Nahen Osten eine wirkungsvolle Rolle zu spielen, sind ohne den aktiven Beitrag der Türkei eingeschränkt. Langfristig muss Ankara eine glaubhafte Perspektive auf die Mitgliedschaft in der Europäischen Union haben.
- Die kurdische Frage lösen. Deren Eckpunkte sind der Tatbestand eines kurdischen Nationalismus auf der einen und die bestehenden staatlichen Grenzen auf der anderen Seite. Die Lösung dieser scheinbaren Quadratur des Kreises liegt in einer tiefgreifenden Neuordnung der inneren Strukturen der Staaten der Region. An die Stelle des gescheiterten zentralistischen Nationalstaats tritt ein föderalistischer (konföderalistischer) Staatsaufbau, in dem Minderheiten ein hohes Maß an politischer und kultureller Autonomie genießen. Ein solcher Rahmen kann eine enge gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche grenzüberschreitende Interaktion unter den Kurden gewährleisten.
- Die Konflikte in Syrien politisch beenden. Voraussetzung für die Rückkehr von Stabilität und den Wiederaufbau des Landes ist die Machtübernahme durch ein neues Regime in Damaskus. Nach Lage der Dinge kann diese nur auf Initiative einer breiten internationalen Allianz geschehen. Dazu gehören Russland, die Europäische Union, die USA (und ggf. China). Voraussetzung für deren Zustandekommen ist, das Nullsummenspiel dieser Mächte zu beenden und der Einsicht Raum zu geben, dass die Stabilisierung Syriens zugleich einen wesentlichen Schritt in Richtung auf die Stabilisierung des ganzen Nahen Ostens bedeutet. Diese aber liegt im langfristigen politischen und wirtschaftlichen Interesse der Beteiligten (einschlägige Stichworte sind Fluchtbewegungen und Terrorismus).
- Den Nahostkonflikt lösen. Die Tatsache, dass der Konflikt um Palästina in der Agenda des „neuen Nahen Ostens“ nach hinten gerutscht ist, bedeutet nicht, dass er bedeutungslos wurde. Der Konflikt als solcher ist ein Produkt geschichtlicher Konstellationen der Vergangenheit. Diese haben sich überlebt. Bei der Lösung des Konflikts müssen jene Triebkräfte, Werte und Prinzipien wirksam werden, welche die Neugestaltung der ganzen Region bestimmen. In jedem Fall müssen alle Beteiligten, namentlich Israelis und Palästinenser erkennen, dass eine Lösung des Konflikts ohne Kompromisse nicht zu erreichen ist.
- Die wirtschaftlichen Potentiale der Region bündeln. Die Kosten der Herausforderungen der Zukunft sind enorm. Von der Schaffung von Arbeitsplätzen, der Bewältigung der Folgen des Klimawandels und dem Wiederaufbau (um nur beispielhaft einige zu nennen) hängt auch die Stabilität von Staat und Gesellschaft ab. Die Mittel dafür müssen im Wesentlichen von den Staaten der Region selbst aufgebracht werden. Die Regierungen werden sich die wirtschaftliche Fragmentierung der Vergangenheit nicht länger leisten können. Die finanziellen und geistigen Potentiale für eine enge Zusammenarbeit sind enorm. Die Tatsache, dass über die Gräben der Vergangenheit hinweg Israel und die Staaten am Golf zu engerer Zusammenarbeit bereit sind, kann in diesem Sinn als positives Signal gewertet werden.
- Eine multilaterale Sicherheitsordnung schaffen. Die innere Neuordnung der Staaten, die Normalisierung der bilateralen Beziehungen und die Stärkung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit rücken das Entstehen einer multilateralen Sicherheitsarchitektur im Nahen Osten in eine realistische Perspektive. Trotz der Unterschiede in der Ausgangslage zum Europa der siebziger Jahre können sich Struktur und Verlauf der Verhandlungen an der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa orientieren.
- In einen umfassenden kulturellen Dialog eintreten. Die im Nahen Osten ausgeübte und von dort nach Europa überspringende Gewalt hat einen tiefen kulturellen Graben zwischen beiden Seiten entstehen lassen. Der Streit um die Veröffentlichung von Karikaturen, die den Propheten Muhammad zum Gegenstand haben, ist paradigmatisch für ein Missverständnis, das weitere Gewalthaftigkeit und Abgrenzung generiert. Dieser Dialog, der in der Vergangenheit ansatzweise bereits geführt, aber mit dem war on terrorism abgebrochen wurde, sollte darauf gerichtet sein, eine Brücke zwischen den unverzichtbaren Werten unterschiedlicher Kulturen auf der einen und allfälligen Kompromissen und Einschränkungen auf der anderen Seite zu schlagen. Vor dem Hintergrund eines immer engeren Zusammenrückens der Völker unterschiedlicher Kulturen und der Verdichtung ihrer Kommunikation ist es von geradezu vitaler Bedeutung, eine Wertebasis zu schaffen, die nicht auf einem Diktat, sondern auf der Akzeptanz aller Menschen beruht.
Mit ihrer Forderung nach „Würde“ haben die Protestbewegungen, die 2010 in Tunesien ihren Anfang nahmen, ihren Willen zum Wandel kraftvoll zum Ausdruck gebracht. Die organisierten Widerstände waren stark; gleichwohl leben die Proteste – in unterschiedlichen Formaten – bis in die Gegenwart fort. Die Kluft zwischen den Machthabern und breitesten Teilen der Gesellschaften ist unübersehbar. Immer selbstbewusster artikulieren und organisieren sich zivilgesellschaftliche Kräfte, die im Kleinen wie im Großen ihre Forderungen zum Ausdruck bringen. Ob Müllentsorgung oder Benzinpreise, ob Gleichstellung der Frauen, Kampf gegen Korruption und Schutz der Umwelt, ob Bürgerrechte im weitesten Sinn – der Druck aus der Gesellschaft wächst; der Wandel kommt von unten. Zivilgesellschaftliche Organisationen in Tunesien haben einen entscheidenden Anteil am Entstehen einer Verfassung, welche die Grundlage eines demokratischen, freien und rechtebasierten Zusammenlebens darstellt. Dafür wurden sie 2015 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Hinter der Fassade von Gewalt und Unterdrückung ist eine starke Bewegung zu konstatieren. Diese muss in den Blick nehmen, wer sich über die Zukunft des Nahen Ostens sorgt.